Die Darwin-Kinder
Leben war noch immer ein viel zu großes Durcheinander. Der letzte Besuch ihrer Mutter war qualvoll gewesen. Ihre Mutter war so traurig gewesen und hatte so viele Bedürfnisse gehabt, die sie beide nicht befriedigen konnten, dass Stella nicht gewusst hatte, was sie sagen sollte.
Sie hoffte, dass Mitch in dem Besprechungszimmer für Familien nicht einfach nur da sitzen und sie über den Tisch hinweg anstarren würde. Oder ihr gezielte Fragen stellte. Oder ihr einzureden versuchte, es gebe doch noch Hoffnung, dass sie alle wieder zusammenleben könnten. Das würde sie bestimmt nicht aushalten.
Stella senkte den Kopf und rieb sich die Nase. Sodass es im Rückspiegel nicht zu sehen war, berührte sie mit der Fingerspitze erst ihren Augenwinkel, dann die Zunge. Sie hatte Tränen in den Augen, die bitter und nach Salz schmeckten.
Aber sie würde ihren Schmerz nicht offen herauslassen und weinen, nicht in der Gegenwart eines Menschen.
Miss Kantor hielt auf dem Parkplatz vor dem flachen Ziegelsteinbau, stieg aus und machte Stella die Tür auf. Als Stella ihr in die Klinik folgte und sie um eine Ecke bogen, sah sie durch eine Lücke im Lüftungsschacht, dass neben dem Empfangsbüro ein langer gelber Bus vorgefahren war. Es war eine ganze Ladung neuer Kinder eingetroffen. Auf dem Weg durch die Glastüren zur Strafabteilung blieb Stella einige Schritte hinter Miss Kantor zurück.
Die Tür zum Sekretariat stand stets offen. Durch das große Außenfenster hoffte Stella einen Blick auf die Neuankömmlinge werfen zu können. Dann würde sie ihrem Dem etwas zu erzählen haben. Nachrichten von draußen oder über potenzielle Neuzugänge waren stets begehrt.
Plötzlich und ohne jeden plausiblen Grund hasste sie Mitch.
Sie wollte nicht, dass er sie besuchte, wollte keine Ablenkungen, sondern sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren und sich nie mehr um einen Menschen sorgen müssen. Am liebsten hätte sie auf Miss Kantor eingeschlagen und sie auf den Linoleumboden geworfen, um irgendwohin zu rennen, nur weg von hier.
Während ihres kurzen, heftigen Wutanfalls, der intensiver ausfiel als bei den meisten Menschen üblich, konnte sie durch das Fenster des Sekretariats flüchtig die Kinder erkennen, die in einer Schlange warteten. Sofort war ihre Wut wie weggeblasen.
Ein Gesicht war ihr bekannt vorgekommen.
Stella bückte sich, um ihren Schuh auszuziehen, umzudrehen und auszuschütteln. Miss Kantor warf einen Blick zurück und blieb, die Hände in die Hüften gestemmt, stehen. Der Geruchsdetektor an ihrem Gürtel piepste. »Produzierst du wieder Düfte?«
»Nein, Maam. – Ich hab einen Stein im Schuh.« Diese Unterbrechung gab ihr genügend Zeit, in ihrem Gedächtnis danach zu suchen, wo sie dieses Gesicht in der Schlange schon einmal gesehen hatte. Sie blieb stehen, scharrte einen Augenblick unbeholfen mit den Füßen, bis Miss Kantor den Blick abwandte, und sah dann schnell noch einmal durchs Fenster.
Sie kannte das Gesicht tatsächlich. Inzwischen war der Junge größer und noch dünner geworden, fast ein wandelndes Skelett. Sein Haar war widerspenstig, die Augen wirkten in der hellen Sonne leer und leblos. Als die Schlange sich in Bewegung setzte, sah Stella wieder auf den Gang und zu Miss Kantor hinüber. Die Sorgen wegen Mitch waren vergessen.
Der magere Bursche da draußen war der Junge, den sie in Fred Trinkets Schuppen in Virginia kennen gelernt hatte, als sie vom Haus ihrer Eltern weggerannt war.
Es war Will – der starke Will.
13
Baltimore
Kaye schloss die Dateien, nahm die Proben und verstaute sie sorgfältig wieder in einem Konservierungsfach im Gefrierschrank. Zum ersten Mal war ihr bewusst, dass sich ihre Arbeit bei Americol dem Ende zuneigte. Noch drei oder vier Experimente, höchstens noch sechs Monate Arbeit im Labor, und sie konnte erneut vor dem Kongress aussagen, sich auf eine Machtprobe mit Rachel Browning einlassen und dem Kontrollausschuss des Senats berichten, dass alle Primaten, Affen, Säugetiere, vermutlich alle Wirbeltiere, ja alle Tiere überhaupt – vielleicht sogar alle Lebensformen, die höher entwickelt sind als Bakterien – genetische Schimären sind.
Genau genommen sind wir alle Virus-Kinder. Nicht nur Stella.
Nicht nur meine Tochter und ihre Art. Alle Babys brauchen Viren, um auf die Welt zu kommen. Der Präsident, alle Senatoren, Abgeordnete, ihre Frauen, Kinder und Enkel, alle Bürger der Vereinigten Staaten, alle Menschen auf dieser Erde haben sich der Erbsünde schuldig
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