Die Darwin-Kinder
die Kinder im Gänsemarsch zum morgendlichen Unterricht in den Wohnwagen und Flachbauten auf, die, über die ganze Fläche verteilt, auf dem sandigen Boden standen. Während Miss Kantor in Begleitung ihrer Assistentin, einer stillen jungen Frau namens Joanie, die recht pummelig war, über den Schotter auf den Transporter zuging, vermied sie es, Stella direkt anzusehen.
»Ich weiß, dass du es nicht alleine warst«, erklärte sie. »Aber du warst die Einzige, die ich erwischen konnte. Das muss aufhören, Stella. Allerdings werde ich dieses eine Mal davon absehen, dich zu bestrafen.«
»Ja, Ma’am.« Stella war zu klug, um mit ihr zu streiten.
Wenn es nach ihrer Nase ging, war Miss Kantor durchaus vernünftig und recht locker, aber bei jedem Anzeichen von Auflehnung oder Widerspruch konnte sie sehr scharf werden.
»Kann ich jetzt zum Unterricht gehen?«
»Nein, noch nicht.« Miss Kantor verstaute ihre Unterlagen im Transporter und zog die hintere Tür auf. »Dein Vater kommt dich besuchen. Wir fahren zur Krankenstation.«
Verwirrt nahm Stella hinter der Abtrennung aus Kunststoff auf der Rückbank Platz. Miss Kantor kletterte auf den vorderen Sitz, während Joanie die Fahrertür zuwarf und zum Zelt zurückging. »Ist er schon da?«, fragte Stella.
»Er wird in etwa einer Stunde hier sein. Ihr beide habt eben erst die Genehmigung bekommen. Das ist doch ein Grund zum Freuen, nicht?«
»Was steckt dahinter?«, platzte Stella heraus, ehe sie ihre Zunge im Zaum halten konnte.
»Gar nichts, es ist nur ein Familienbesuch.«
Miss Kantor ließ den Motor an. Stella spürte, dass dieser Besuch ihr keineswegs passte. Miss Kantor hielt elterliche Besuche im besten Fall für sinnlos. Niemals würden sich die Kinder völlig in die menschliche Gemeinschaft einfügen, auch wenn die schulische Erziehung darauf abzielte. Sie kannte diese Kinder zu gut. Sie konnten sich einfach nicht angemessen benehmen.
Was noch schwerer wog: Miss Kantor wusste, dass Stellas Vater im Gefängnis gesessen hatte, weil er gegen Vollzugsbeamte des Krisenstabs tätlich geworden war. Es musste ihr wie ein Affront vorkommen, dass er hier als Besucher auftauchte. Schließlich war sie noch ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Spezialschule Sable Mountain ein Knast gewesen war.
Stella hatte Mitch seit drei Jahren nicht gesehen und konnte sich kaum noch an seinen Geruch erinnern, von seinem Aussehen ganz zu schweigen.
Miss Kantor fuhr über den Schotterweg bis zu der gepflasterten Straße vor, die, links und rechts von Gestrüpp gesäumt, nach ein paar hundert Metern zu dem Ziegelsteinbau führte, der allgemein ,die Klinik’ hieß, obwohl es, streng genommen, gar kein Krankenhaus war. Soweit Stella wusste –
und sie war sich in diesem Punkt recht sicher –, diente das Gebäude nur als Verwaltungszentrale und Strafanstalt der Schule. Früher einmal war hier das Gefängniskrankenhaus untergebracht gewesen. Manche Kinder behaupteten, die Klinik sei der Ort, wo sie einem Salzlösung in die Wangen spritzten, einem die Zunge beschnitten oder die neuen Gesichtsmuskeln so lahm legten, dass man einen ganz zwanghaften Ausdruck bekam.
Kurz gesagt galt die Klinik als der Ort, wo man versuchte, aus SHEVA-Kindern Menschen zu machen. Stella hatte zwar noch nie ein Kind getroffen, das solche Qualen erlitten hatte, aber manche ihrer Gefährtinnen behaupteten, es liege nur daran, dass solche Kinder unverzüglich nach SUBURBIA verfrachtet würden – in eine Vorstadt, in der nur SHEVA-Kinder lebten, die nun versuchten, sich genau wie Menschen zu verhalten.
Soweit Stella wusste, war nichts Wahres daran. Allerdings war die Klinik zweifellos der Ort, an den man zitiert wurde, wenn sie einem Blut abzapfen wollten. Sie selbst war schon oft genau deswegen hierher geschickt worden.
In den Lagern kursierten viele solcher Geschichten. Nur wenige entsprachen der Wahrheit, aber die meisten konnten einem Angst einjagen und halfen gegen die schreckliche Langeweile, unter der die Kinder häufig litten.
Während sie einen Stacheldrahtzaun und einen Graben passierten, spürte Stella, wie etwas Trauriges und Kaltes Besitz von ihr ergriff.
Die Erinnerung.
Sie wollte sich auf keinen Fall vom Hier und Jetzt ablenken lassen. Während sie durch das Fenster starrte, wuchs ihr Widerwillen gegen Mitchs Besuch. Warum ausgerechnet jetzt?
Warum nicht zu einem Zeitpunkt, an dem sie ihr Leben im Griff hatte und ihm erzählen konnte, dass sie etwas Erstrebenswertes erreicht hatte? Das
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