Die Darwin-Kinder
Retroviren bei Fremdtransplantationen – bei Verpflanzungen von tierischem Gewebe in menschliche Körper – in den Griff zu bekommen. Als SHEVA und der Fall Mrs. Rhine ins Licht der Öffentlichkeit gelangten, war das Projekt auf Eis gelegt worden. Seither hatte man ihn der allgemeinen Immunologie zugeteilt.
Mit gequälter Miene blickte Nilson, der Kaye an einen altersgrauen kummervollen Gnom erinnerte, von einem zum anderen. »Ich nehme an, ich soll hier deshalb als Erster sprechen, weil man es von mir nach dem Grundsatz Nobel oblige erwartet. Oder, noch schlimmer, weil ich hier der Älteste bin.«
In diesem Augenblick betrat ein kleiner älterer Mann den Raum. Sein auffällig schlanker Körper steckte in einem grauen Anzug, auf dem Kopf trug er eine jüdische Gebetskappe. Mit freundlichen, von einem Faltenkranz umrahmten braunen Augen, das Gesicht zu einem immer währenden Lächeln verzogen, sah er sich im Zimmer um. »Kümmern Sie sich nicht um mich«, sagte er, nahm auf einem Stuhl in der hintersten Ecke Platz und schlug die Beine übereinander. »Jetzt ist Lars nicht mehr der Älteste«, merkte er gelassen an.
»Danke, Maurie«, erwiderte Nilson. »Freut mich, dass du dich freimachen konntest.« Maurie Herskovitz zählte ebenfalls zu Marge Cross’ Riege von Nobelpreisträgern und war möglicherweise der am häufigsten ausgezeichnete Biologe bei Americol. Sein Spezialgebiet konnte man grob mit Komplexität von Genomen umschreiben. Inzwischen arbeitete er als Vordenker ohne festes Ressort in verschiedenen Forschungsabteilungen. Dass er an dieser Sitzung teilnahm, überraschte Kaye und machte sie auch leicht nervös. Trotz seines ewigen Lächelns – angeboren, vermutete Kaye, wie bei einem Delphin – galt Herskovitz als jemand, der im Labor den strengen Tyrannen herauskehrte. Sie war ihm noch nie persönlich begegnet.
Cross verschränkte die Arme und atmete laut durch die Nase.
»Lassen Sie uns weitermachen.«
»Dr. Jackson«, sagte Nilson mit einem Blick nach rechts,
»Ihre Impfstoffe
gegen SHEVA haben unerwartete
Nebenwirkungen. Ihr Versuch, die Übermittlung von ERV-Teilchen innerhalb des Zellgewebes zu unterbinden, hat zum Tod der Versuchstiere geführt. Offenbar liegt das zum Teil an einer massiven Überreaktion des natürlichen Immunsystems der Tiere – egal, ob bei Mäusen, Schweinen oder Affen. Das scheint unsere ursprünglichen Annahmen zu widerlegen.
Haben Sie eine Erklärung dafür?«
»Wir nehmen an, dass unsere Versuche in wesentliche Prozesse eingreifen – sie möglicherweise auch nachahmen –, die mit dem Abbau krankheitserregender Messenger-RNA in Somazellen zu tun haben. Offenbar deuten die Zellen unsere Impfstoffe als Begleiterscheinung viraler RNA und hören mit jeglicher Transkription und Translation auf. Die Zellen sterben ab. Der Grund scheint darin zu liegen, dass sie andere Zellen vor einer Infektion bewahren wollen.«
»Meines Wissens kann ein weiteres Problem auftreten, wenn man die Wirkung von Transposons in T-Lymphocyten blockiert«, fuhr Nilson fort. »Offenbar haben fast alle fraglichen Impfstoffe Auswirkungen auf RAG 1 und RAG2.«
»Wir sind, wie gesagt, immer noch dabei, diese Zusammenhänge zu untersuchen«, erwiderte Jackson aalglatt.
»Die Expression von ERVs löst aber nur in den seltensten Fällen den Selbstmord von Zellen aus«, bemerkte Nilson.
Jackson nickte. »Es handelt sich um einen komplizierten Prozess. Genauso wie viele Krankheitserreger haben auch einige Retroviren die Fähigkeit entwickelt, sich zu tarnen und dadurch die Abwehrmechanismen der Zellen auszuschalten.«
»Also ist es durchaus möglich, dass die Vorstellung, alle Viren seien Eindringlinge oder gewalttätige Invasoren, in bestimmten Fällen gar nicht zutrifft?«
Jackson widersprach vehement, wobei er sich strikt an die traditionelle Argumentation hielt: Innerhalb des Genoms sei die DNA eine genau umrissene, wirksame Blaupause. Viren seien nichts als Parasiten und Anhängsel, die für Krankheit und Chaos sorgten, allerdings in Ausnahmefällen auch nützliche neue Entwicklungen einleiten könnten. Er erläuterte es damit, dass virale Promotoren, wenn man sie einem lebensnotwendigen zellulären Gen vorschaltet, die Genproduktion in einem wichtigen Moment der Zellgeschichte verstärken könnten. Noch seltener komme es vor, dass sie innerhalb von Keimzellen, aus denen Ei- oder Spermazellen hervorgehen, per Zufall irgendwo landen, wo sie Veränderungen des Phänotyps oder bei der
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