Die Darwin-Kinder
»Ist mir doch egal«, sagte Will.
»Ich bin herübergekommen, weil ich dich begrüßen wollte«, erklärte Stella. Will konnte ja nicht wissen, was ihr seine Worte damals bedeutet hatten. »Also bist du denen damals entwischt.« Sie beobachtete ihn gespannt, weil sie hoffte, er würde ihr davon erzählen.
»Wir unterhalten uns wie die Menschen. Kannst du mit Ober-und Unterstimme reden?«
»Ja. Sprichst du das auch so wie wir?«
»Nicht so wie hier in den Wohnheimen,« gab Will zu und schwenkte den Arm. »Draußen auf der Straße… spricht man anders. Lauter, schneller.«
»Und in den Wäldern?«
»Es gibt keine Wälder«, erwiderte Will mit verzerrter Miene, als hätte sie etwas Obszönes ausgesprochen.
»Als du denen entwischt bist, wo bist du da hingegangen?«
Will wandte den Blick zum Himmel. »Ich kann hier jede Menge essen. Ich werde mich erholen, wieder kräftiger werden, die Gerüche kennen lernen, mich in der Doppelsprache verständigen.« Er ballte die Hände zu Fäusten, klopfte sie leicht auf den Tisch und schlug sie dann gegeneinander, Daumen gegen Daumen, als sei es irgendein Spiel. »Warum lassen sie zu, dass wir uns treffen? Ich meine Jungen und Mädchen.«
»Ich weiß es nicht. Manchmal zapfen sie einem hinterher Blut ab und stellen Fragen.«
Will nickte.
»Weißt du, was sie damit bezwecken?«, fragte Stella.
»Keine Ahnung. Sie bringen einem nichts bei, wie in allen Schulen, stimmt’s?«
»Wir lesen einige Bücher und lernen bestimmte Fertigkeiten.
Aber wir dürfen keine Wolken bilden oder Düfte produzieren, sonst werden wir bestraft.«
Will lächelte. »Blöde Hohlköpfe.«
Stella zuckte zusammen. »Wir bemühen uns, ihnen keine Schimpfnamen anzuhängen.«
Will wandte den Blick ab.
»Wie lange warst du in Freiheit?«, fragte Stella.
»Die haben mich erst vor einer Woche geschnappt. Ich hab mich allein durchgeschlagen oder zusammen mit Ausreißern und Straßenkindern. Hab meine Backen mit Henna tätowiert, den Hals auch. Manche Menschenkinder markieren ihre Gesichter, damit sie so wie wir aussehen, aber das erkennt jeder. Sie behaupten auch, sie könnten Gedanken lesen und hätten bessere Gehirne, so wie sie das bei uns vermuten. Das finden sie cool, aber ihre Tupfen bewegen sich nicht.«
Stella konnte sehen, dass Wills wunde Hautstellen auf dem Gesicht hier und da noch ein paar braune Tupfen aufwiesen.
»Wie viele von uns sind noch draußen?«
»Nicht viele. Mich hat ein Mensch gegen ein Päckchen Zigaretten ausgeliefert, obwohl ich ihn davor bewahrt habe, zusammengeschlagen zu werden.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Es ist schrecklich da draußen.«
Stella roch, dass Joanie in der Nähe war, trotz oder auch wegen der für sie typischen Schicht von Babypuder. Als die stämmige junge Beraterin näher kam, richtete Will sich auf.
»Keine Einzelgespräche«, hörte Stella Joanie in ihrem Rücken sagen. »Ihr kennt die Regeln.«
»Die anderen sind gegangen.« Stella drehte sich um und setzte zu einer Erklärung an, die sie erst unterließ, als Joanie sie an der Schulter packte. Während Joanie sie fest im Griff hatte, weigerte sie sich, deren Blick zu erwidern.
Will stand auf. »Ich gehe.«
Gleich darauf sagte er in Doppelsprache, wobei die obere Stimme jungenhaftes Geschwafel imitierte: »Auf bald, grüß Cory in Wohnheim sechs« – es gab keine Cory und auch kein Wohnheim sechs – »und halt dich wacker, alter Racker, ja?«
Gleichzeitig fragte er mit Unterstimme: »Was weißt du über einen Ort namens Sandia?«
Er mischte die beiden Wortströme so geschickt, dass Stella einen Augenblick brauchte, bis sie die Frage heraushörte. Für Joanie klang es vermutlich so, als habe er lediglich genuschelt.
Während Joanie Stella wegführte, hob er die Hand und sagte in Normalstimme: »Versuch, irgendwas darüber herauszufinden, ja?«
Stella sah, wie Ellie zur Blutabnahme weggebracht wurde.
Ellie tat so, als sei es keine große Sache, aber das stimmte nicht. Stella fragte sich, ob Ellie deswegen dran war, weil sie heute so viele Jungen angezogen hatte, insgesamt fünf an dem Tisch, an dem sie mit Felice gesessen hatte. Die anderen Mädchen gingen zum Vormittagsunterricht und mussten sich Filme über die Geschichte der Vereinigten Staaten ansehen, in denen Männer mit Perücken, Frauen in Roben, Güterzüge, Landkarten und auch ein paar Indianer vorkamen.
Mitch hatte Stella vieles über indianische Kulturen beigebracht. Der Film vermittelte nichts
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