Die Darwin-Kinder
Er verstrickte seine Zuhörer in ein ausgeklügeltes Netz aus Ablenkungsmanövern und Nebensächlichkeiten, hier und da aufgelockert durch irgendwelche tief schürfenden Hypothesen über Entwicklungen, die außerhalb von Teströhrchen durch nichts belegt waren. Wenn er sich in die Defensive gedrängt sah, griff Jackson unweigerlich auf streng überwachte in vitra -
Experimente zurück, wobei er vorzugsweise die in der Laborforschung so beliebten Kulturen von Tumorzellen anführte. Die streng umrissenen Experimente, die er zitierte, waren unter genau kontrollierten Bedingungen erfolgt und hatten allzu oft zu Ergebnissen geführt, die von Anfang an vorhersehbar gewesen waren.
Marge Cross ließ ihn fünf Minuten gewähren. Als Jackson auffiel, dass sie allmählich ungeduldig wurde, brachte er seine Zwischeneinlage rasch zu Ende. »Offensichtlich haben die ERVs viele Wege ersonnen, sich in das genomische Räderwerk ihres Wirts einzuklinken. Aus der Natur sind uns viele Beispiele dafür bekannt, dass es den Wirt das Leben kosten kann, wenn man einen Parasit zu beseitigen sucht.
Wahrscheinlich haben die Viren sogar Sicherungen gegen ihre Eliminierung geschaffen: Pseudogene, Mehrfachkopien, getarnte oder komprimierte Kopien, die sie später abrufen können, Methylierung von DNA, um Restriktionsenzyme auszubremsen – alle möglichen schlauen Tricks. Aber der wichtigste Beweis für die Bösartigkeit aller Retroviren, selbst der so genannten wohlwollenden oder gutartigen, ist das, was HIV und SHEVA unserer Gesellschaft angetan haben.«
Kaye blickte von ihren Notizen auf.
»Wir müssen mit einer Generation von Kindern leben, die sich nirgendwo einfügen kann«, fuhr Jackson fort, »mit einer Generation, die Argwohn und Hass hervorruft. Auch ihr selbst bereitet die so genannte neue Anpassungsfähigkeit an eine veränderte Umwelt – es sind Eigenschaften, die ihr der Zufall aus einem ganzen Arsenal möglicher Defekte beschert hat –
nichts als Kummer. Viren fügen uns bittere Schmerzen zu.
Falls man uns die Zeit zugesteht, wird unsere Arbeitsgruppe die unglückseligen Verzögerungen wieder gut machen und alle Viren aus unserem Leben verbannen. Und dann werden Viren im menschlichen Genom nur noch hässliche Albträume sein, die einer problembeladenen Vergangenheit angehören.«
»Ist das als abschließende Bemerkung zu verstehen?«, fragte Cross, ohne den Zuhörern Gelegenheit zu geben, Jacksons dramatische Darbietung zu verdauen.
»Nein«, erwiderte Jackson und lehnte sich im Stuhl zurück.
»Eher als ein emotionaler Ausbruch. Ich entschuldige mich dafür.«
Cross sah diejenigen an, die Fragen an ihn gerichtet hatten.
»Zufrieden?«
»Nein«, sagte Nilson und runzelte erneut die Stirn, als sehe er vom Olymp auf das Treiben der Menschen hinab. Dieser Gesichtsausdruck war nach Kayes Erfahrung eine Besonderheit älterer männlicher Wissenschaftler, insbesondere eine von Nobelpreisträgern. »Aber jetzt möchte ich Dr.
Rafelson eine Frage stellen.«
»Man kann sich immer darauf verlassen, dass Lars Leben in die Sitzungen bringt«, bemerkte Cross.
»Ich hoffe, Dr. Nilson stellt Kaye ähnlich bohrende Fragen wie mir«, sagte Jackson.
»Damit können Sie rechnen«, gab Nilson trocken zurück.
»Wir wissen, wie schwierig es ist, mit Embryonen im Frühstadium zu arbeiten, wenn wir es mit Säugetieren, beispielsweise mit Mäusen, zu tun haben. Noch schwieriger ist diese Arbeit, wenn unsere Versuchstiere Primaten sind. Soweit ich Gelegenheit hatte, Ihre Forschung zu beurteilen, haben Sie in der Laborarbeit kreative und geschickte Verfahren angewendet.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Kaye.
Nilson runzelte erneut die Stirn und winkte ab. »Ebenso wissen wir, dass die Embryonen und ihre Wirtinnen, die Mütter, auf vielfältige Weise zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass die väterlichen Komponenten vom Gewebe des Embryos abgestoßen werden. Kann es nicht sein, dass man, wenn man bei Schimpansenembryonen gezielt ERVs entfernt, auch Gene eliminiert, die für andere Dinge – für den Schutz des Embryos – wesentlich sind? Insbesondere denke ich dabei an das FasL-Gen, aktiviert durch CRH, das Hormon, das beim schwangeren Weibchen Corticotropin freisetzt. FasL
sorgt bei den mütterlichen Lymphocyten dafür, dass Zellen absterben, wenn sie sich daran machen, den Embryo anzugreifen und ihm zu schaden. FasL ist für das Austragen des Embryos unentbehrlich.«
»FasL wird von unseren Eingriffen nicht beeinflusst«, erklärte
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