Die Datenfresser
großen wie im kleinen wird daher nach Belieben vermengt. Denn verlangt man – berechtigterweise – die Offenlegung des staatlichen Handelns oder die Transparenz kommunaler Projekte, dann dürfe – so der geistige Kurzschluß – die neue Offenheit auch beim Bürger nicht haltmachen. Jedermann zugängliche Informationssammlungen seien die Moderne schlechthin. Niemand mit Verstand könne doch fordern, dem noch Einhalt zu gebieten. Als wollte ihnen jemand verbieten, das Persönliche im Netz zu offenbaren, herrscht ein missionarischer Drang, das »Ende der Privatsphäre« zum Gesellschaftsmodell zu erklären.
Die Protagonisten dieses netzexhibitionistischen Lebensstils sind es offenbar auch müde, sich um ihre Datensouveränität zu kümmern. Die Folgen – unabsehbar, im Einzelfall auch mal katastrophal – werden in die Zukunft delegiert, optimistisch kleingeredet oder zur Petitesse erklärt. Sich der Lawine der modernen Technik in den Weg zu stellen kommt gar nicht in Frage. Als sei eine technische Entwicklung unausweichlich, die doch von Menschen gestaltet wird. Was nutzt, wird genutzt, die Nebenwirkungen vernachlässigt.
Wir müssen uns ernsthaft der Frage stellen, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, in der kleine und größere Übertretungen von moralischen und rechtlichen Normen nicht mehr verborgen bleiben können. Wenn Übertretungen einmal aufgezeichnet sind, ist die Versuchung groß, sie – vorzugsweise automatisiert – auch zu ahnden. Aber ist ein solches Leben aushaltbar, erstrebenswert, menschenwürdig? Bisher wird nicht jedesmal, wenn jemand nachts um vier bei roter Ampel über die leere Straße läuft, automatisch ein Strafzettel erstellt. Doch schon bald ist das kein Problem mehr.
Die dystopischen Niederlande
In den Niederlanden, einem Land ohne Verfassungsgericht, wo Veränderungen sehr viel schneller und radikaler als in Deutschland geschehen, arbeitet man mit Nachdruck und Verve an der Umsetzung des durchdigitalisierten, störungsfreien Lebens. Staat, Strafverfolger und große Teile der Bevölkerung finden dort eine uferlose Maximierung der Datenbasis vollkommen in Ordnung – ein Eldorado für Post-Privacy-Missionare. Es geht in den Niederlanden um Effizienz, Ordnung und Sicherheit. Mit Toleranz hat man es im Land der Deiche und Grachten lange versucht, nun schlägt das Pendel heftig in die Gegenrichtung aus.
Die Behörden und der Gesetzgeber haben dort nun beschlossen, daß die vollständige Transparentmachung und Kontrolle von Informations-, Geld- und Bewegungsströmen die Kernelemente eines modernen Präventionsstaates sind. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und deren enge Verzahnung mit dem Sicherheitsapparat führen zu Methoden der Ordnungserzwingung, die in Deutschland bisher undenkbar scheinen. Seit neuestem gibt es sogar präventive, nicht verweigerbare gemeinsame »Hausbesuche« durch Behörden und Polizei in allen Wohnungen ganzer Stadtviertel. Offiziell klingelt dabei vielleicht die Bauaufsicht, die dann aber noch Mitarbeiter von Polizei, Einwanderungsbehörde und Sozialamt mitbringt, die sich gemeinsam in jeder einzelnen Wohnung umsehen wollen. Man mag hierzulande den Kopf darüber schütteln und auf die Unverletzlichkeit der Wohnung pochen. Doch im Namen der Sicherheit sind heute überall in Europa – auch in Deutschland – Gesetze in Kraft getreten, die noch vor wenigen Jahren als Ungeheuerlichkeit gegolten hätten.
Wenn sich in den Niederlanden mal keine justiziablen Beweise für Verfehlungen finden lassen, höchstens Anhaltspunkte, gibt es noch das »Projekt Gegenwirken«. Es funktioniert auf einem einfachen, aber perfiden Prinzip. Normalerweise werden all die kleinen Unannehmlichkeiten, wie Hygienekontrollen in Restaurants oder Steuerprüfungen, die ein Staat dem Bürger zumutet, per Zufall oder algorithmisch anhand von hoffentlich halbwegs objektiven, geheimgehaltenen Kriterien gleichmäßg verteilt. Wer jedoch ins Visier von »Gegenwirken« gerät, der hat plötzlich dauernd eine Steuerprüfung, das Jugendamt sieht genauer hin, Parkzettelverteiler schauen jeden Tag in der Straße vorbei, jeder Behördengang wird zum Spießrutenlauf, dank eines nicht einsehbaren »Vorsicht!«-Zeichens in den Datensätzen.
Für den Betroffenen gibt es keine Möglichkeit zur effektiven Gegenwehr. Von außen betrachtet, hat er einfach nur Pech. Sein Leben wird zur Hölle, und die ausführenden Bediensteten wissen oft nicht mal, daß sie die Dämonen sind.
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