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Die Delegation

Die Delegation

Titel: Die Delegation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Erler
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traurig. Und ich hätte dann nicht mehr gewagt, weiter zu berichten, daß auch Mike Callaghean, der Riese, der Prophet aus dem Alten Testament, bei lebendigem Leibe verbrannte, in Nazca, in Peru, als er den Raumschiffen der Fremden zu nahe kam. Und daß ich ihn brennen sah, mit eigenen Augen – gefilmt von einer Kamera, die seinen Händen entglitten war. Der Untergang des Reiches Ninive.
    Ich fragte sie nicht, sprach sie nicht an, erwiderte nur ihren Blick und blieb stehen, wo ich stand, wich nicht aus. Ein Duft nach Sandelholz wehte vorbei – oder kam das vom Meer? Und sie lief davon mit diesem Mann.
    Ich hätte sie ohne Mühe noch erreichen können. Sie blieb an einem Wagen stehen, keine fünfzig Schritte von mir entfernt, und wartete darauf, daß dieser Mann die Tür aufschloß. Aber der kaufte noch ein, Ice-Cream und Magazine und Popcorn und Dosenbier. Das dauerte. Und ich stand immer noch da, allein, auf der ersten Bohle dieses Anlegesteges, der unter meinen Füßen zitterte durch die meterhohen Brecher, die der Pazifik heranschob. Meine Kollegen saßen schon in einer dieser Fischerbuden. Und ich starrte immer noch hinter diesem Mädchen her, das längst eingestiegen und samt Wagen und Mann verschwunden war. Irgend etwas war mit mir geschehen.
    Es blieb eine Leere zurück, eine unbestimmte Traurigkeit, so ein Geschmack nach Verlust und Abschied, nach Niemalsmehr-Wiedersehen. Eine versäumte Gelegenheit. Das wäre eine Brücke gewesen zu Roczinski – nicht zu Roczinski, dem Fernsehreporter, nicht zu diesem mir unbekannten Mann, der mich nicht mehr interessierte, der nicht sterben konnte, solange wir seine Filme vorführbereit in Dosen mit uns herumtrugen – nein, zu Roczinski, dem unheiligen Heiligen, diesem gescheiterten Propheten, zu diesem Verkünder einer kosmischen Botschaft: Weite, Freiheit, Frieden, Geborgenheit im Universum, Roczinski auf der Suche nach den Übermenschen, auf der Suche nach den Göttern. Der tote Roczinski war der Vermittler – nicht der lebende. Und auch diese Verbindung zu ihm war nun abgerissen. Dicht neben dem Eingang, im Windschatten dieser Fischbude, hatte sich eine Gruppe junger Leute niedergelassen. Sie hockten dicht zusammengekuschelt wie eine Herde frierender Schafe und schwiegen. Der Wind wirbelte ihnen die langen Haare ins Gesicht. Einer hielt an einer Stange ein Schild mit einer primitiv gemalten Hand, der Zeigefinger wies nach oben in den grauzerfetzten Himmel, zu den Möwen, die den Sturm abritten und unflätig herunterplärrten. Neben dem Zeigefinger stand in roten Lettern: »HE’s still ALIVE!« ER lebt – ER lebt immer noch! ER lebt immerzu! Der Schildträger versuchte vergeblich, eine Zigarette anzuzünden, nein, keinen Joint, dafür hatte er ja jetzt dieses Schild. Aber die winzige Flamme wurde immer wieder ausgeweht. Das Schild war ihm hinderlich – er gab es weiter. Ein Mädchen nahm es, blickte lange und nachdenklich auf Zeichnung und Schrift – und dann warf sie es über das Geländer hinweg ins Meer.
    Keiner aus dieser Gruppe sagte etwas, keiner reagierte, sie hockten und schwiegen, als sei nichts geschehen. Die Zigarette brannte endlich. Der Rauch bildete kleine Wirbel über den Köpfen, dort, wo eben noch ein Bekenntnis prangte. Ich trat an das Geländer. Da schwamm das Schild, tief unten auf meterhohen Wellen, der Zeigefinger wies hinaus auf die offene See! › HE’s still ALIVE‹!

59
     
     
     
    »Hallo!«
    Erst war es nur ein Duft nach Sandelholz, dann sah ich den Hut über einen Rücken baumeln, sah die schwarzen Haare.
    »Hallo, Jessica!«
    Sie drehte sich um, sah mich spöttisch an, fand es keine Frage wert, wieso ich ihren Namen wußte – hier kannte man sich. Zumindest blieb man sich nicht lange fremd. Eine ›party‹. Abschiedsparty von Kalifornien. Morgen geht’s in die Wüste.
    »Was ist los?« So zierlich, so schmal und eine so tiefe Stimme.
    »Nichts ist los!« – Falsch: Viel ist los, Jessica, viel! »Ich hab’ nur nichts zu trinken.«
    »Komm mit…« Sie nahm mich am Ärmel, zog mich durch das Gewühl. Eine winzige Wohnung, vollgefüllt mit hundert Leuten – oder zweihundert oder nur fünfzig, ich weiß es nicht mehr.
    Henry Sokal, unser Cutter, hatte viele Freunde in Los Angeles, einen Teil seiner Schulzeit hat er hier verbracht. Eine Wiedersehensfeier. »Cuba libre?«
    Ja, meinetwegen. Es gab nur Cuba libre, nichts anderes. »Skol!« Wir tranken und schauten uns an. Ihr Mund war wirklich viel zu groß. Und die Wimpern waren

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