Die dem Mond ins Netz gegangen - Lene Beckers zweiter Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
schreiend trauerten. Die Kostbarkeit des Lebens, die uns nicht nur beim Verlust eines Angehörigen, sondern auch bei fremden Menschen, bewusst wird. Wir trauern mit ihnen. Das machte doch die Menschlichkeit des Einzelnen aus. Der Mensch ist empfindlich gegen Gewalt, er will die Unverletzbarkeit – auch der anderen, der Mitmenschen. Beschützen, bewahren, besonders die, die er liebt.
Sie sah die Szenarien, in denen Väter ihre Kinder und ihre Frauen umbrachten, weil sie, die Männer, nicht mehr mit dem Leben zurechtkamen. Dann mussten auch die anderen seiner Familie sterben. Ohne gefragt zu werden. Und alle, die davon erfahren, reagieren zutiefst entsetzt.
Mit welchem Recht, schrie es plötzlich laut in ihrem Innern, mit welchem Recht tötet ein Mann die Frau, die er liebt, weil er sie nicht haben kann, weil sie kein anderer haben darf? Unter dem Deckmantel der Liebe? Oder sogar um seinen Wohlstand zu bewahren?
Sie sah den Schmerz von Marion und Ferdinand Melzer, die um ihre Tochter trauerten, sie sah Veronika Schuster, die ihre einzige Tochter verloren hatte.
J etzt empfand sie Wut. Eine Wut, die sich auf den grenzenlosen, mörderischen Egoismus von Frank richtete. Und sie wusste wieder, warum sie diesen Beruf gewählt hatte. Immer noch fühlte sie den Idealismus der jungen Lene, die dafür sorgen wollte, dass Verbrecher gefasst werden.
Auch wenn sie damals geglaubt hatte, wie ein Engel der Gerechtigkeit über dem Bösen schweben zu können und jetzt oft das Gefühl hatte, den Schmutz, in dieser Nähe um sie herum in ihrem Alltag, nicht mehr ertragen zu können.
Sie hatten ihn gefasst. Er würde nicht mehr töten. Das war es wert. Und, dachte sie und es mischte sich etwas Stolz oder wenigstens Z ufriedenheit darunter, sie hatten die Fälle in gerade einmal einer Woche – oder waren es acht Tage? – aufgeklärt.
Zufrieden stand sie auf. Vorbei.
In dem Moment klingelte ihr Handy. Mike.
» Ich bin fertig, Lene. Ich nehme den Flieger morgen. Und komme Montag früh in Paris an. Habe Anschluss zu dir. Um 15:35 bin ich in Montpellier! Was sagst du?«
Sie lauschte seiner männliche Stimme, ließ den Klang auf sich herabre gnen wie einen Sommerschauer. Mike. Er würde wirklich kommen. Und er war wirklich. Es gab ihn.
Sie atmete tief durch. Dann fühlte sie nur noch Freude gemischt mit Herzklopfen . Sie sah ihn vor sich, seine Augen in dem schier unglaublichen Blau, seine kraftvollen Hände, die so zärtlich sein konnten, fühlte seine Haut, atmete seinen Duft, der sich mit dem seiner schwarzen Lederjacke vermischte. Bruchteile von Sekunden gab es nur ihn und sie.
» Ich bin auch fertig, Mike. Wie wunderbar. Flieg schneller. Ich bin am Airport.«
Alles war gut.
Kapitel 31
Sonntag, 22. Juli
Am nächsten A bend saßen sie alle bei ihren Freunden Susa und Dominique auf der Terrasse. Luc und Juana waren auch gekommen. »Bring sie doch einfach mit«, hatte Susa in ihrer unkompliziert herzlichen Art gesagt. Und sie waren gern gekommen. Maline konnte nicht wegen der Kinder.
Luc und Lene hatten die Nachricht von dem gestä ndigen Mörder gleich nach dem Verhör zu den Eltern von Brigitte und der Mutter von Marie in das Hotel gebracht. Tränen der Erleichterung. Sie lagen sich alle in den Armen. Dann beschlossen Melzers, gleich am Sonntagabend erst einmal nach Hause zu fliegen. Sie mussten noch warten auf die Freigabe der Leiche ihrer Tochter und würden dann wiederkommen.
Lene und Luc erboten sich sie zum Airport zu fahren. Lene war schon mittags zu ihnen ins Hotel gefahren. Während Irene online eincheckte, packten die beiden Frauen in Windeseile. Ferdinand sah plötzlich zu Lene und hatte eine Frage in den Augen. Sie lächelte.
» Marion, hör mal kurz auf zu packen.«
Sie griff in ihre Handtas che und holte ein Päckchen heraus. Sie war noch gestern Abend mit Luc bei der Bank vorbeigefahren. Luc hatte den Bankdirektor, den er gut kannte, gebeten, sie an das Schließfach zu lassen, trotz Wochenende.
Nun zögerte Lene kurz, wem sie die Kostbarkeit geben sollte, als sie Marions Zeichen verstand. Sie legte die Gürtelspange in Ferdinands Hände.
» Passt gut darauf auf«, sagte sie und wusste, dass der Satz höchst überflüssig war. Irene sah ihnen über die Schulter.
» Wie schön sie ist«, murmelte sie, als Ferdinand sie ausgepackt hatte. Schwer und dunkel lag sie wie ein Geheimnis auf seiner Hand.
» Gut, dass es keine Zollkontrollen mehr zwischen Frankreich und Deutschland gibt. Da wäre mir doch
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