Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
dem Fußboden saß, irgendein bunt bebildertes Geografiebuch wälzte, von Elefanten und Nomaden, von Monsunen und Expeditionen las und nur gelegentlich aus dem Augenwinkel zu seinen Eltern hinüberschaute: Die Mutter schlafend und röchelnd auf dem Sofa, Speichel trocknete in ihren Mundwinkeln, und der Vater phlegmatisch daneben, trübe in den Fernseher schauend, wo sich Vicco Torriani gerade den goldenen Schuss setzte.
* * *
Marek studierte den Brief noch einmal, faltete ihn zusammen und sagte: »Vielleicht sollten wir sie einfach so akzeptieren, wie sie ist.«
Angelika seufzte. Es war der dritte blaue Brief in zwei Jahren. Zuerst war die Geschichte mit dem Kippfenster gewesen, dann war Petra mit einer Stricknadel auf eine Klassenkameradin losgegangen und hatte ihr das Ding mit beträchtlicher Wucht in die Hand gejagt – in diesen fleischigen Bereich zwischen Daumen und Zeigefinger, wo nichts Gravierendes kaputtgehen kann, wo es aber mächtig wehtut. Und jetzt hatte sie ihre Klassenlehrerin als Miststück tituliert – wo auch immer sie diesen Begriff aufgeschnappt haben mochte.
Ihre Eltern – freundliche, sanfte Menschen, die sich Petras Tendenz zum Rüpelhaften einfach nicht erklären konnten – hatten auf ihre Tochter eingeredet. Sie hatten geschimpft, gestraft, am Ende sogar gefleht. Alles, wirklich alles hatten sie versucht, um aus ihrem kleinen Feger ein liebes Mädchen zu machen. Doch es war sinnlos: Die Kleider, die sie ihr kauften, hatte Petra regelmäßig zerschnitten. Ihre Puppen schaute sie nicht an. Die hübschen Pferdebücher lagen unberührt in der Ecke – stattdessen hatte sie sich von Piet einen ganzen Stapel Comics ausgeliehen. Cowboy-Heftchen.
Der dritte Brief der Schule war deutlicher als die letzten beiden: Noch ein selbst winziges Vergehen, und die Schulleitung sähe sich gezwungen, Petra der Schule zu verweisen. Marek und Angelika riefen ihre Tochter ins Wohnzimmer.
»Warum tust du das?«, fragte Angelika, die Stimme erschöpft, weil sie diese Frage schon viel zu oft stellen musste. »Willst du nicht, dass deine Freundinnen dich mögen?«
Petra, mit zusammengekniffenen Augen, knurrte: »Das sind nicht meine Freundinnen! Ich mag die nicht!«
Marek beugte sich vor und legte den Arm auf Petras Schulter: »Petra, so geht das nicht weiter. Wenn du noch ein einziges Mal in der Schule auffällst, dann fliegst du. Verstehst du? Dann darfst du da nicht mehr hingehen!«
»Gut«, sagte Petra. Und zum ersten Mal an diesem Abend lächelte sie.
1968
E s waren die fiesesten Jungen der Schule: Niklas, Kalle und Boris! Sie gingen in die vierte Klasse, waren also ein Jahr älter als wir und außerdem die Hauptfiguren allerlei schreckenerregender Geschichten, die tuschelnd auf dem Schulhof ausgetauscht wurden. Boris soll einem Jungen einmal ein Auge ausgestochen haben. Und Niklas rauchte angeblich schon Zigaretten. Zwei Schachteln am Tag.
Wer klug war, ging diesem Höllen-Trio aus dem Weg. Die drei wohnten in der maroden Siedlung am Swebenbrunnen und kompensierten die Tatsache, dass ihre Eltern weder Geld, noch Zeit, noch Lust hatten, ihnen das Leben zu versüßen, mit blanker Aggressivität. Wenn Niklas, Kalle und der fette Boris einem entgegenkamen, sah man klugerweise zu Boden. Eine Demutsgeste, wie im Tierreich, wie Bernhard einmal treffsicher feststellte.
Es war an einem Dienstag, als wir alle dermaßen konzentriert auf den Boden starrten, als hätten wir ihn zuvor noch nie bemerkt. Sven, Susann, Bernhard, Petra (die es irgendwie geschafft hatte, ihrer Mädchenschule zu entkommen und jetzt bei mir in der 3a saß) und ich taten so, als wären wir gar nicht da. Doch die drei üblen Jungen hatten es auf uns abgesehen. Sie hatten uns am Schultor abgefangen, nach der fünften Stunde, als wir uns gerade auf den Heimweg machen wollten.
»Schwulis! Schwulis!«, riefen sie zuerst. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Idioten nicht wussten, was genau das eigentlich bedeutete, dass sie es nur bei einem ihrer hirnlosen Väter aufgeschnappt hatten, aber sie brüllten es mit Vehemenz. Wir selbst wussten auch nichts so recht, was »schwul« bedeutete, obwohl es eines der ganz großen, oft benutzten Pfui-Wörter unserer Altersklasse war. Susanns großer Bruder Jan, von uns befragt, hatte uns mit großer Geste erklärt, dass »Schwule ihren Ding Dong in das Pupsloch anderer Leute stecken«. Aber auch diese kryptische Aussage hatte ehrlich gesagt nicht besonders zur Klärung des Sachverhalts
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