Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Himmel.
Sven ging neuerdings ständig ins Theater – meist allein, manchmal aber auch mit Susann. Hin und wieder kam sogar ich mit – aber nur, wenn es ein Stück »mit Substanz oder gesellschaftspolitischer Relevanz« war. Während Susann und ich uns hinterher über den Inhalt des Stückes ereiferten, redete Sven immer nur vom Bühnenbild. Und dann erklärte er uns eines Tages, dass er nach der Mittleren Reife abgehen wolle und sich um einen Ausbildungsplatz als Schreiner bemühen würde. Er wollte Bühnenbildner werden. Seine Mutter, sagte er, sei zwar nicht begeistert, dass er kein Abitur machen wolle, aber andererseits sei sie heimlich auch ganz happy – wie sie das Studium ihres Sohnes finanzieren sollte, hätte sie sowieso nicht gewusst. Das bisschen Geld, das Svens Vater nach wie vor jeden Monat überwies, würde dafür jedenfalls nicht reichen.
Bernhard wurde immer stiller. Er wohnte jetzt schon seit geraumer Zeit bei seiner Oma, die angeblich den ganzen Tag vor dem Fernseher saß, was damals – als es nur drei TV-Programme gab – eine noch frustrierendere Beschäftigung gewesen sein muss als heute. Manchmal, wenn wir alle uns verabredeten, kam er einfach nicht. Und wenn er dann das nächste Mal wieder auftauchte, hatte er keine Erklärung für sein Fernbleiben anzubieten und auch keine Entschuldigung, dass er uns vergeblich auf ihn hatte warten lassen.
Seine Mutter hatte sich scheinbar völlig vom Planeten Erde zurückgezogen. Ich meine, sie lebte noch. So halbwegs zumindest. Aber wenn man die Schnittmenge aller Gerüchte nahm, die in Farmsen-Berne über Bernhards Mutter kursierten, dann hatte ihr Gehirn nur noch die Konsistenz einer verschrumpelten Grützwurst. Sie hatte sich ins mentale Abseits gesoffen und sabberte jetzt, vermutlich für den Rest ihres Lebens, den Linoleumfußboden in der Psychiatrie voll.
* * *
Petra umklammerte Dilbert von hinten. Und obwohl sie wusste, dass er sich mit seinem Mofa manchmal absichtlich in besondere Schräglagen begab, damit sie ihren Griff verstärken und sich noch enger an ihn schmiegen musste, spielte sie mit. Scheiße, genau das wollte sie ja auch: sich eng an Dille schmiegen! Wenn sie auch nur einen logischen Grund nennen sollte, was sie an diesem Jungen fand, dann hätte sie passen müssen. Er war laut, selbstgefällig, ein Chauvi und Sprücheklopfer. Na ja, okay, er war auch gut aussehend und witzig. Und wenn man sah, wie er mit seinem Bruder umging, dann konnte man zumindest ahnen, dass etwa vierzig Zentimeter über seinem Schwanz auch ein Herz schlug.
Als sie bei Petras Haus angekommen waren, wollte Dille schon weiterfahren, als Petra ihn aufhielt. »Komm doch noch kurz mit rein«, sagte sie, »ich hab die neue Platte von Sweet .«
»Bei dir muss man Musik doch immer so leise hören, das bringt doch nix«, stöhnte Dille.
»Meine Eltern sind nicht da. Die sind bei meinem Onkel in Hannover«, sagte Petra – und irgendwie fand sie, dass das verschwörerischer klang, als es klingen sollte.
»Oh, mh. Okay«, sagte Dille und stieg von seinem Mofa.
Als sie in ihr Zimmer kamen, legte Petra die Platte auf und ging dann in die Küche, um einen Tee zu kochen. Dille blieb zurück und schaute durch Petras Plattensammlung. Respekt , dachte er, ziemlich viel Hard Rock für ein Mädchen! Er schaute sich die Poster an den Wänden an – verschiedene Fantasy-Motive, einige davon kannte er als Plattencover von Yes – und öffnete, weil er nun mal kein dezenter Mensch war, ihre Schreibtischschublade. Darin lagen ein paar Filzstifte, lose Büroklammern, eine Rolle Tesa und zwei, drei Tampons. Dille schloss die Schublade schnell wieder. Wenn es etwas gibt, was fünfzehnjährige Jungen nicht sehen wollen, dann sind das Tampons!
Petra kam zurück, stellte das Tablett mit der Teekanne, den Tassen und dem Kandis auf den Fußboden und nickt in Richtung Plattenspieler: »Stark, oder?«
»Nicht schlecht«, sagte Dille.
Dann saßen sie eine Weile schweigend auf dem Boden, tranken Tee und taten so, als würden sie der Musik zuhören. Als sie beide gleichzeitig nach der Teekanne greifen wollten, berührten sich ihre Hände für eine Sekunde. Eine einzige Sekunde. Dann zog Dille seine schnell zurück, und Petra bekam durch die Hektik der Bewegungen einen kleinen Schreck, zuckte zusammen – und stieß die Kanne vom Stövchen. Der heiße Tee spritze ihr über Hose und Pulli, und sie schrie auf. »Scheiße!« Dann lief sie ins Badezimmer.
Dille hob die Kanne auf,
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