Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
»Lass uns ein bisschen warten«, hatte sie gesagt, »der amtliche Teil hat Zeit.« Niemand sprach aus, dass eine Heirat in diesem Alter blanker Schwachsinn wäre und ganz abgesehen davon wahrscheinlich nicht mal legal. Wir alle taten so, als hätte Dille einen zwar unerwarteten, aber letztlich plausiblen Vorschlag gemacht, und als hätte Petra sehr reif und rational auf ihn reagiert. Wir wussten instinktiv, dass es psychologisch ziemlich ungeschickt wäre, ein werdendes Elternpaar darauf hinzuweisen, dass sie beide selbst noch relativ unfertige Menschen seien. Die zukünftige Mama und der angehende Papa waren nämlich auch so vermutlich schon nervös genug.
Aber sie waren auch erstaunlich organisiert – Dille hatte alles genau ausklamüsert: In zehn Wochen hätten Petra und er ihre mittlere Reife. Bereits vier Tage nach Schulschluss würde er seinen ersten Job anfangen. In jener Woche, in der wir alle ihn grübelnd zu Hause vermuteten, hatte er Petras und sein zukünftiges Leben organisiert – er hatte einen Ausbildungsvertrag zum Einzelhandelskaufmann bei der Supermarktkette Bolle unterschrieben. Er hatte mit seinen Eltern, die erst getobt, dann geseufzt und schließlich ganz pragmatisch ihre Hilfe angeboten hatten, eine kleine Eineinhalbzimmerwohnung am Berner Heerweg besichtigt. Wenn Petra sie mögen würde und ihre Eltern mitspielten, könnten sie sie ab Januar, wenn beide sechzehn sein würden, mieten. Sie war billig – und sie lag, was Bedingung dafür war, dass sie allein zusammenleben durften, nur wenige Meter von Dilles Elternhaus entfernt. »Na ja, eigentlich ist es gar keine richtig eigene Wohnung«, gestand Dille. »Eher so eine Art bewohnbares Außenklo im Garten meiner Eltern.« Petra lachte und küsste ihn.
Dilberts Eltern würden den Mietvertrag unterschreiben, die beiden finanziell unterstützen, bis Dilles Ausbildung vorbei wäre und er genug eigenes Geld verdienen würde. Und natürlich würde Dilles Mutter öfter auf der Matte stehen, als es ihnen lieb sein dürfte. Auch Petras Eltern, stellte sich dann heraus, würden eine regelmäßige Summe überweisen und es sich nicht nehmen lassen, permanent und mindestens einmal täglich nach dem Rechten zu sehen.
»Das ist nicht alleine leben «, sagte Sven, »sondern offener Ehe-Vollzug. Und eure Eltern sind die Bewährungshelfer.«
Wir lachten.
Doch jedes Mal, wenn wir lachten, hatten wir ein schlechtes Gewissen. Denn seit einigen Tagen machten wir uns Sorgen: Bernhard war verschwunden! Spurlos.
Keiner von uns hatte ihn in den letzten fünf Tagen gesehen. Er war nicht zur Schule gekommen, und wenn man bei ihm zu Hause anrief, brabbelte seine Oma irgendwas, dass er jemanden besuchen würde. Zumindest habe er das auf einen Zettel geschrieben. Ich glaube, die alte Dame war schon fest im Würgegriff des Alzheimer und kapierte nicht mehr wirklich, was es bedeutete, wenn ein 15-jähriger Junge einfach nicht mehr da war.
Wir dagegen ahnten sehr wohl, dass Bernhard die große Flatter gemacht hatte, und überlegten hin und her, was zu tun sei. Wir hatten keine Ahnung, wo wir auch nur zu suchen anfangen sollten. Und wir waren uns gar nicht sicher, ob es wirklich gut wäre, wenn man Bernhard fände. Was hatte er hier schon für ein Leben? Vielleicht gab es da draußen etwas Besseres für ihn? Wahrscheinlich war das genau seine Überlegung: Schlimmer kann’s nicht werden.
Auf jeden Fall wussten wir jetzt, warum er uns an jenem Tag – dem letzten, den er mit uns verbrachte – so lange angestarrt hatte: Er wollte sich unsere Gesichter merken. Er wollte sich an uns erinnern können.
1977
I m Mai 1977, eineinhalb Jahre nachdem Bernhard verschwunden war, kam ein erstes Lebenszeichen von ihm: eine Ansichtskarte. Er hatte sie an mich adressiert, und als ich sie sah, war ich so überrascht, wie ein Mensch es nur sein kann.
Die Karte zeigte einen Elefanten, der vor einem Tempel stand. In Bernhards unverwechselbarer Handschrift, die sehr klein, aber gestochen scharf war, stand darauf:
Hallo,
Ihr Kirschkernspucker!
Mich hat’s nach Indien verschlagen! Ich helfe hier dem Roten Kreuz, die bauen eine Brücke über den Chambal und wollen einige der anliegenden Dörfer mit Trinkwasser und einem kleinen Krankenhaus versorgen. Es gibt so viel zu tun! Und ich fühle mich so gut wie noch nie. Indien ist eine andere Welt – kaum zu glauben, dass all das hier sich auf demselben Planeten wie Hamburg befindet …
He, Petra – wie lebt es sich als Mutter?
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