Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
zelebrieren, wir alle sollten seinen Inhalt gleichzeitig hören. Das war mir wichtig, darauf hatte ich mich gefreut. Pustekuchen.
»Schade um die Kartoffelchips«, sagte ich giftig. Und ich konnte förmlich hören, wie Dille eine hilflose Grimasse schnitt. Ich wusste ja, dass er sicher lieber bei mir sitzen, ein Bier trinken und Bernhards Neuigkeiten hören würde, anstatt von seiner mitunter ganz schön furchterregenden, durch allerlei Schwangerschaftshormone momentan sogar doppelt gefährlichen Gattin den Kopf gewaschen zu bekommen. Aber ich ärgerte mich trotzdem.
»Mhm, na ja …«, murmelte ich, mich selbst zur Anteilnahme und Versöhnlichkeit zwingend, »dann eben ein andermal. Hey, viel Glück! Ich hoffe, sie lässt dich in einem Stück!«
»Hehehe«, lachte Dille nervös. Und dann legte er auf.
Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor acht. In einer halben Stunde würde Susann kommen, um neun dann Sven. Ich zog eine der Tupperschüsseln aus dem Kühlschrank, die mir meine Mutter mitgegeben hatte: Rotkohl und Kassler. Ich kippte das Essen auf einen Teller und schob ihn in meine neue Mikrowelle.
1981 war das Jahr, das mir mein Leben maßlos erleichterte und versüßte. Zwei neue Erfindungen eroberten nämlich den Markt: die Mikrowelle und der Videorekorder. Beide musste ich mir, obgleich es ein ziemliches Loch in mein Konto fraß, unbedingt anschaffen! Von Ersterem ging das Gerücht um, es verursache Krebs, von Letzterem hieß es, es sei der finale Sargnagel für das gute, alte Kinoerlebnis – aber, hey: Es waren zwei Kästen, die für mich wie maßgeschneidert waren. Endlich konnte ich einen Film meiner Wahl genießen, ohne auf das schockierend fade Angebot der drei deutschen TV-Sender angewiesen zu sein. Und wenn ich etwas warmes Essen wollte, musste ich nicht mehr schnippeln, schmoren, rühren und hinterher die angebrannten Töpfe schrubben, sondern bloß den kleinen Drehschalter auf 3 Minuten und den Druckknopf auf On stellen. Es war wie ein Vorahnung des Paradieses.
1981 war allerdings auch das Jahr, in dem ich die größte Dummheit meines Lebens beging und eine Seite an mir entdeckte, von der ich bis dato nicht einmal etwas ahnte. Eine Seite, die mir noch heute, wo ich von ihrer Existenz weiß, Angst macht. Was, wenn sie noch einmal zum Vorschein kommt?
Dilles Anruf war das erste Steinchen jener Lawine, die alles auslöste. Der zweite Auslöser kam, als ich gerade die erste Gabel Rotkohl in den Mund schob. Denn da klingelte das Telefon erneut. Es war Susann.
»Piet«, sagte sie kurzatmig und denkbar geschäftsmäßig, »es klappt heute nicht. Mir ist etwas dazwischengekommen.«
»Was denn?«, fragte ich möglichst neutral.
» Etwas!«, raunzte Susann. »Es ist einfach etwas dazwischengekommen!«
»Ich will, dass du herkommst!«, sagte ich und wunderte mich selbst über meinen weinerlichen Tonfall.
»Morgen, Schatz. Okay?« Susann versuchte eine gewisse Sanftheit in ihre Stimme zu bringen, doch ich spürte, dass sie nur eines wollte: auflegen.
»Scheiß drauf!«, schrie ich. »Scheiß einfach drauf!« Und dann knallte ich den Hörer auf die Gabel.
Ich starrte das Telefon an und war mir sicher, dass sie sofort noch einmal anrufen würde. Susann würde es nicht ertragen, so verabschiedet zu werden. Doch das Telefon blieb stumm. Nach etwa zwei Minuten hob ich den Hörer ab und lauschte. Ja: ein Freizeichen. Das Telefon funktionierte also. Ich legte den Hörer wieder auf. Warum rief sie nicht an?
Ich nahm Bernhards Briefumschlag, den ich vor mir auf den Tisch gelegt hatte, in die Hand. Er war noch verschlossen, obwohl ich darauf brannte, ihn zu lesen. Doch ich war nicht der alleinige Empfänger. Dieser Brief war für uns alle. Für alle Kirschkernspucker! Es war so ziemlich das Einzige, was uns noch als Einheit erscheinen ließ, das letzte Bindeglied zu unserer Vergangenheit.
Sie fehlte mir, die Vergangenheit. Ich vermisste meine Welt, wie sie einmal war. Ich hätte ohne zu zögern meine Mikrowelle und den Videorekorder aus dem Fenster geworfen, wenn ich dafür das Gefühl zurückbekommen hätte, das ich damals hatte. Damals, als wir zusammen auf der Wiese saßen, herumalberten, in unserem eigenen Universum lebten und völlig sicher waren, dass alle offenen Fragen, alle Zweifel, alle Traurigkeit an jenem Tag beendet sein würden, wenn wir ›groß‹ wären. So stellte ich mir das vor: Eines Tages würde ich aufwachen, wäre erwachsen, und alles würde sich zusammenfügen. Der totale
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