Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Matze sahen Sven noch am Fenster vorbeigehen, erhobenen Hauptes. Matze lächelte verlegen.
»Du bist so ein sensationelles Riesenarschloch, Matze!«, schimpfte einer der Männer an den Tischen.
Matze wedelte mit der Hand eine schwammige Geste zu ihm hinüber, die alles und gar nichts bedeuten konnte.
Als Sven um die Ecke gebogen war, blieb er stehen. Niemand sah ihn mehr. Sven ließ die Schultern herunterfallen und erlaubte einer Träne, aus seinen Augen zu rollen. Damit war der Bann gebrochen: Sven begann hemmungslos zu schluchzen. Ein leises, zittriges Wimmern. Sein rotes Gesicht nass vor Tränen.
Und so sah er auch noch aus, als er eine halbe Stunde später vor Susanns Tür stand!
»Ich …«, stammelte er. Doch mehr Worte kamen nicht. Nur ein Heulen.
»Oh, mein Gott!«, rief Susann entsetzt. »Was ist? Bist du verletzt?«
Sven schüttelte den Kopf. Susann zog ihn in ihre kleine Wohnung, drückte ihn auf ihr Sofa, setzte sich neben ihn, nahm ihn in den Arm und ließ ihn eine Weile lang an ihrer Schulter schluchzen. Dann, stockend, erzählte er ihr, was passiert war.
Susann stand nur kurz auf, um Piet anzurufen und abzusagen, dann setzte sie sich zurück zu Sven auf das Sofa. Er brauchte sie. Und sie würde für ihn da sein.
* * *
»Moooment!« Der Mann mit der roten Nase rollte mit den Augen und musste sich vergewissern, dass er das alles richtig verstanden hatte: »Du m-meinst, während wir hier sitzn, knattert deine Alte d-deinen besstn Freund.«
Ich nickte und hob, deutlich sichtbar für die sensationell fette Frau hinter dem Tresen, Zeige- und Mittelfinger hoch. Die international anerkannte nonverbale Methode, zwei Kurze zu ordern. Ich war noch nie in dieser Pinte gewesen, obwohl ich jeden Tag mehrmals an ihr vorbei ging. Holsten-Klause . Eigentlich nicht meine Art von Etablissement: Hier saßen nur Männer ab fünzig, oder zumindest solche, die so aussahen, als ob sie das halbe Jahrhundert schon absolviert hätten. Schlichtes Holzmobiliar, gerahmte Poster vom HSV, ein muffiger Geruch und aus den Lautsprechern sabbschte Schlagersülze. Es war der perfekte Ort, wenn man sich scheiße fühlte. Hier würde dieses Gefühl ganz sicher nicht verschwinden! Hier war ich richtig!
Der Mann mit der roten Nase war mein neuer bester Freund. Er hatte sich unverzüglich selbst dazu ernannt, nachdem ich begonnen hatte, ihm Schnäpse zu spendieren. Als Gegenleistung erteilte er mir praktische Lebenshilfe: »W-wenn dir die Fraun blöd kommn, musste ihnen auffe Fresse haun!«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht mein Stil«, brummelte ich und kippte den Kurzen, der plötzlich vor mir stand, in meinen Schlund. Der Mann mit der roten Nase schnappte sich das andere Glas.
»D-du musst aber irgndwas machen! Kannstse ja nich einfach d-da rumficken lassen, mit d-deinem b-besten Freund. G-geht doch nich, so was! D-da verlierste ja d-deine Menschnw-würde!« Der Mann mit der roten Nase fand, dass sein letzter Satz von besonderer Tiefe war und wiederholte ihn deshalb – diesmal jede Silbe betonend, indem er mir mit dem Finger stakkatoartig auf den Solarplexus piekte: »D-da verlierste deine M-menschnwürde, verstehste? D-deine Menschnw-würde!«
Die Kneipe drehte sich. Zumindest fühlte es sich so an. Ich war noch nicht so besoffen, dass ich das Gebrabbel des Mannes mit der roten Nase ernsthaft für erwägenswerte Denkimpulse hielt, aber ich hatte inzwischen genug Kurze gekippt, dass ich mich doch ein wenig von seinem aggressiven Aktionismus anstecken ließ. Zumindest in einem Punkt hatte er ja auch Recht: So konnte es nicht weitergehen! Ich war nicht mehr bereit, Susann mit Sven zu teilen! Es musste reiner Tisch gemacht werden! Sofort!
»Habt ihr ’n Telefon?«, fragte ich die Tresenwuchtbrumme.
Die Dame überlegte einen Moment und beschloss dann offenbar, dass mich die stolze Anzahl von Schnäpsen, die ich für mich und den Mann mit der roten Nase bestellt hatte, zu einem Gratis-Gespräch qualifizierte. »Ortsgespräch?«, fragte sie, während sie ein schweres, schwarzes Telefon unter dem Tresen hervorangelte.
»Häh?«, fragte ich nach, während ich mit rechts nach einem der beiden Hörer griff, die vor meinen Augen tanzten, und den Zeigefinger der linken Hand mit äußerster Konzentration in das dritte Loch der Wählscheibe steckte.
»Wohin geht das Gespräch?«, fragte sie.
»Direkt in die Höhle des Löwen!«, knurrte ich.
Es tutete achtmal, bis Susann endlich abnahm. Sie klang müde. Ich schaute auf die Uhr:
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