Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Durchblick wäre endlich da!
Doch irgendwann begann ich zu ahnen, dass wir alle ratlos bleiben würden. Verwirrt und suchend, bis wir in die Kiste kamen. Und das deprimierte mich. Und noch mehr deprimierte es mich, dass ich scheinbar der Einzige war, der der Vergangenheit solch einen Stellenwert zumaß. Mit den anderen zusammen Bernhards Brief zu lesen – das wäre wie eine Reise zurück gewesen, eine Erneuerung unserer Freundschaft. Doch Dille und Petra ließen die Chance verstreichen, um ihre Beziehung zu diskutieren, Susann sagte ab, weil …
… weil?
Warum sollte ich mir etwas vormachen: Sie war auf dem Weg zu Sven! Mittlerweile war es fünf nach neun. Und ich wusste: Ich könnte noch zwei Stunden warten, und Sven würde trotzdem nicht kommen. Susann und Sven! Sven und Susann!
Als ich diese Erkenntnis nicht mehr vor mir selbst leugnete und mit wutverzerrtem Gesicht, laut brüllend den Teller, der noch halb voll Rotkohl war, gegen die Wand schmiss, war die Lawine in voller Fahrt. Ich war nicht mehr zu bremsen!
* * *
Eine Woche war es her, dass Sven seine Unschuld an Matze verloren hatte. Es war schön. Nein, es war wunderbar! Matze war zärtlich, verstand Svens Angst und Aufregung und wusste, wie sie ihm zu nehmen war. Und als Matze dann gegangen war, mitten in der Nacht, hatte sich Sven lächelnd in seine Decke gekuschelt und leise geseufzt. Er war verliebt!
»Ich ruf dich an«, hatte Matze gesagt.
Doch getan hatte er es nicht.
Erst nach zwei Tagen – er wollte ja nicht aufdringlich erscheinen – hatte Sven seinerseits versucht, Matze zu erreichen. Doch es ging niemand ans Telefon. Auch am Tag darauf nicht. Gleich nach der Arbeit eilte Sven nun jeden Tag ohne Umweg nach Hause und wartete auf einen Anruf. Er ging nicht mehr aus, nicht einmal wie sonst so oft zum Imbiss an der Ecke, um sich ein halbes Hähnchen zu holen. Er blieb in seiner Wohnung. Das Telefon könnte ja klingeln!
Nach fünf Tagen gestand er sich jedoch ein, dass Matze sich wohl niemals melden würde. »Ich bin ein One Night Stand«, sagte Sven zu seinem Spiegelbild. »Ein Fick für eine Nacht!«
Doch im Hinterkopf war immer noch die Hoffnung. Vielleicht, nur vielleicht hatte Matze ja auch den Zettel mit Svens Telefonnummer verloren? Und er fand auch das Haus, in dem Sven wohnte, nicht wieder, weil es ja dunkel gewesen war, dieses eine Mal, als er den Weg dorthin zurückgelegt hatte. Vielleicht musste Matze auch überraschend für ein paar Tage weg. Vielleicht.
An dem Abend, als bei Piet Bernhards Brief verlesen werden sollte, beschloss Sven, vorher kurz ins Tuc Tuc zu schauen. Vielleicht war Matze ja da. Sven musste endlich wissen, woran er war! Piet wohnte praktischerweise nur einige Busstationen von dort entfernt – Sven müsste diese Verabredung also nicht absagen.
Als Sven die Tür der Kneipe öffnete, sah er Matze sofort – er saß am Tresen und sprach mit dem dunkelhaarigen Barkeeper, der sich – wie Sven mittlerweile wusste – Parzival nannte und ein Freund von Matze war. Sven legte von hinten seine Hand auf Matzes Schulter – und in dem Moment, als er sich umdrehte, wusste Sven Bescheid! Da war keine Freude, ihn zu sehen, in Matzes Blick. Da war Unbehagen, ein kleines, aber offenkundiges Genervtsein. Matze lächelte, nicht sehr glaubwürdig, und sagte: »Oh! Hi!« Er gab Sven sogar einen Kuss. Doch Sven spürte, dass er störte.
»Du hast nicht angerufen«, sagte Sven. Und er ärgerte sich über die Brüchigkeit seiner Stimme.
»Du«, antwortete Matze, »ich hatte die letzten Tage höllisch viel zu tun!«
Parzival wandte Sven den Rücken zu. Doch im Spiegel hinter dem Tresen konnte Sven sehen, dass er feixte.
Sven sah Matze nur an. »Hör mal«, sagte der schließlich, »ich finde dich total süß. Und es war sehr schön. Aber es ist ja nicht so, dass wir uns verlobt hätten …«
Kicherte da jemand leise an einem der Tische? Sven zwang sich, nicht hinzuschauen.
»Das war’s?«, fragte er. »Das ist alles?«
Matze zuckte mit den Schultern. Ihm war dieses Gespräch offenbar unangenehm, aber neu schien diese Art von Situation für ihn nicht zu sein. »Das heißt ja nicht, dass wir uns jetzt aus dem Weg gehen müssen«, wiegelte er ab. »Ich sagte ja: Es war schön. Ich hätte keine Einwände gegen eine Wiederholung, aber wir müssen ja nicht gleich …«
Sven drehte sich um. Mitten im Satz ließ er Matze stehen, öffnete die Tür und trat auf die Straße. Es sah sehr würdevoll aus. Parzival und
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