Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
musste es wissen!
In meiner Verzweiflung rief ich bei Petra an. Und an dem Zögern in ihrer Stimme erkannte ich, dass sie bereits informiert war.
»Bitte leg nicht auf!«, flehte ich.
Zuerst sagte Petra gar nichts. Dann schließlich: »Okay.«
Natürlich: Wenn irgendjemand auf diesem Planeten Verständnis für gewalttätige Wutausbrüche aufbringen musste, dann Petra.
»Wie geht es Sven?«, fragte ich.
»Platz- und Schnittwunden und eine leichte Gehirnerschütterung«, erklärte Petra. »Er durfte heute Morgen schon wieder nach Hause.«
Gottseidank!
» Ich …«, hob ich an. Doch dann verstummte ich. Was wollte ich sagen? Was sollte ich sagen?
Petra wartete noch einen Moment. Und als ich immer noch schwieg, legte sie einfach auf.
Ich ließ den Kopf sacken. Wenigstens war Sven in Ordnung. Na ja, ziemlich in Ordnung. Aber das war auch schon alles.
Stundenlang saß ich da und starrte vor mich hin. Ich ging den Abend in jeder quälenden Einzelheit wieder und wieder durch. Keine Chance, etwas zu finden, was meine Schuld in irgendeiner Weise schmälern könnte.
Während ich so dasaß und mir den Kopf zermarterte, entdeckte ich Bernhards Brief, der immer noch auf dem Tisch lag. Ich öffnete ihn.
Liebe Kirschkernspucker!
Diesmal schreibe ich Euch aus dem Herzen des schwarzen Kontinents! Ich habe mich mal wieder in die Dienste des Roten Kreuz begeben und helfe hier in Obervolta als Sanitäter. Ich weiß nicht, ob ihr in Deutschland schon davon gehört habt, aber hier unten grassiert eine schreckliche Seuche namens »Aids«. Tausende sterben. Es gibt keine Heilung und keine Impfung. Alles, was wir tun können, ist, die Leute mehr oder weniger in Würde sterben zu lassen.
Manchmal ist es schrecklich deprimierend, und ich wünschte, ich könnte bei Euch sein! Ihr seid immer so gut drauf, habt immer etwas zu lachen. Ihr macht Euch die Dinge nicht unnötig kompliziert! Aber andererseits möchte ich auch meine Erfahrungen hier und im Rest der Welt nicht missen. Ich habe wirklich gelernt, das Glück in den Kleinigkeiten zu finden.
Ich wünschte, Ihr könntet mir zurückschreiben, aber ich weiß ja nie, wo ich als Nächstes sein werde. Doch natürlich wüsste ich gern, was Ihr so treibt. Ich bin mir aber sicher, dass es Euch gut geht. Ihr seid Glückskinder. Vielleicht komme ich ja irgendwann auch mal wieder ins kalte Deutschland.
Ob wir uns wieder erkennen würden?
Macht’s gut, Freunde!
Bernhard
Ich legte den Brief zu Seite. Für einen Moment dachte ich, ich müsste weinen. Doch es waren keine Tränen mehr da.
1985
I ch hatte Arlette in der Baghwan-Disco kennen gelernt. Die Sekte des Shree Rajneesh war der letzte Schrei in der Stadt, und der dazugehörige Tanzschuppen galt als hipper Treff. Ich stand dem esoterischen Unfug, der dahinter steckte, allerdings nicht besonders nahe, und ich bezweifelte zudem stark, dass ein Haufen dumm schwafelnder Gestalten, die einen Großteil ihrer Zeit darauf verwanden, die Stadt nach orangefarbener Kleidung zu durchforsten, mir tatsächlich zu einer neuen Bewusstseinsebene verhelfen konnten. Trotzdem gab es zwei gute Gründe, diese Disco zu besuchen: Erstens traf man hier tolle Frauen, Frauen wie Arlette. Und zweitens ertönte dreimal pro Nacht plötzlich ein Gong, woraufhin abrupt die Musik verstummte und alle Baghwanesen anfingen, zwei Minuten lang zu beten. Das war ein denkbar guter Zeitpunkt, sich zechprellenderweise aus dem Lokal zu schleichen! Solche Chancen boten andere Tanzschuppen nicht.
Arlette studierte Kunstgeschichte und war Französin, was sich vor allem in einem überaus putzigen Akzent und einer sehr ungewöhnlichen Esskultur manifestierte. Wenn sich Arlette zum Essen hinsetzte, stand sie frühestens zwei Stunden später wieder auf. Immer gab es eine Vorspeise, Rotwein, als Nachtisch eine reichhaltige Käseauswahl, Weintrauben. Sie hatte sogar eine dieser riesigen, echten Espressomaschinen, wie man sie sonst nur aus Restaurants kannte, in ihrer Küche stehen. Es war unglaublich! Für mich, der es bereits als »Verfeinern« bezeichnete, wenn jemand bloß Ketchup über Pommes kippte, waren diese kulinarischen Exzesse eine ganz neue Erfahrung. Rückblickend kommt mir die Zeit mit Arlette wie ein einziges großes Schlemmergelage vor. Verblüffenderweise blieb Arlette dabei ein ungemein zierliches Persönchen – während ich mir in diesen sieben Monaten einen kleinen Hüftring anfutterte, den ich wohl bis zum Ende meiner Tage spazieren tragen werde.
Alles war
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