Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
gelüstete nach mehr. Als die neunziger Jahre begannen, als ich also die gruseligen Dreißig erreichte, unterwarf ich mein bisheriges Leben einer kritischen Begutachtung und brauchte nicht lange, um ein vernichtendes Urteil zu fällen: Piet Lehmann, du führst ein entsetzlich banales Dasein!
Und deshalb kündigte ich, zögernd zwar und mich mehrfach vergewissernd, dass ich in einem halben Jahr gegebenenfalls in meinen Reporterjob zurückkehren könnte. Ich übernahm nur noch zwecks Finanzierung der Grundbedürfnisse gelegentliche Aufträge für Theater-, Platten- und Filmkritiken, für Kurzporträts und Politkommentare. Hauptberuflich war ich ab sofort Schriftsteller!
Ja: Ich wollte ein Buch schreiben!
Ein profundes Buch!
Ein substanzielles Buch!
Ein Buch, das etwas bedeutet !
Und deshalb saß ich jetzt also am Computer und … suchte einen Anfang! Wenn der erst mal da wäre, käme der Rest bestimmt von selbst. Doch die ersten Sätze, die mussten einfach stimmen, die mussten perfekt sein!
Die Silhouette der Stadt glich Mahnmalen – Mahnmalen für jedes einzelne Leben, das hier vergeudet wurde …
Oh Gott! Del!
In dieser Nacht beschloss Fritz T., das Leben zu verlassen, wie man einen fahrenden Zug, für den man kein Billet hat, verlässt: mit einem Sprung, beherzt, bei voller Fahrt und …
Igitt! Piet, du Schwafler! Del!
Fritz liebte das Leben. Doch das Leben liebte nicht zurück.
Gnnnnnrhgh! Del! Del! Del!
Okay, um ganz ehrlich zu sein: Ich wusste nicht einmal, wovon mein Buch handeln sollte. Ich wusste nur, dass es die ultimative Traurigkeit ausdrücken sollte. Eine Ode an die Bitternis! Denn das war in meinen Augen wahre Literatur: Tränen auf Papier!
Aber vielleicht war ich auch einfach nur scheiße drauf und tat mir selbst ganz furchtbar leid …
Doch dann kam der 9. Oktober des Jahres 1990! Wenn ich behaupten würde, es war ein turbulenter Tag, wäre das untertrieben. Wenn ich sagen würde, es war ein unglaublicher Tag, würde ich ihm immer noch nicht einmal ansatzweise gerecht werden. Wenn ich sagen würde, es war ein Wahnsinnstag , der Tag aller Tage, der Tag, der mein Leben veränderte … okay, ja, das trifft so etwa den Punkt.
Es begann beim Frühstück. Ich hatte mir wie üblich morgens um zehn beim Bäcker zwei Mohnbrötchen und die Morgenpost geholt, mir dann zu Hause einen Kaffee aufgebrüht und mich am Küchentisch niedergelassen. Ich war gerade beim zweiten Brötchen angelangt, als ich das Foto auf Seite 19 sah: Es war ein Foto von Narc, meinem ehemaligen WG-Mitbewohner. Dem Fensterspringer. Seltsamerweise war es kein Foto, das ihn mit einer Spritze im Arm auf dem Boden einer Toilette am Hauptbahnhof zeigte und ihn als hundertsten Drogentoten des Jahres vorstellte, sondern ein sehr professionell geschossenes Porträt. Narc hatte einen 100-Mark-Haarschnitt und grinste selbstgefällig in die Kamera. Die Schlagzeile lautete: Mit Kokain zum Kultautor: Karsten Ortlepps Drogenfantasien.
Ich überflog den darunter stehenden Bericht und konnte es nicht fassen: Narc, der sich mittlerweile zu seinem Geburtsnamen bekannte, hatte ein Buch geschrieben, das den sinnigen Titel Volle Breitseite trug und, ich zitiere, auf ebenso radikale wie brutal komische Weise ein Panoptikum von Verweigerern zu Helden erklärt. Die drogengeschwängerte Underground-Phantasie eines begnadeten Geschichtenerzählers, der sehr wohl weiß, wovon er schreibt.
Das durfte doch nicht wahr sein! Dröhnbirne Narc, von dem ich meiner Erinnerung nach nie einen einzigen Satz gehört hatte, der auch nur im Entferntesten Sinn machte, hatte einen Bestseller gelandet. Scheiße, ein Kultbuch ! Alles, was der Typ offenkundig tun musste, war, sein wirres Innenleben auszukotzen und dann einen Lektor zu finden, der so etwas wie Grammatik in die Sache brachte. Und fertig war das Literaturwunder.
Und ich?
Ich, der immerhin Seminare an der Akademie für Publizistik besucht hatte, der konjugieren konnte, jahrelang die schönsten aller Morgenpost -Alliterationen abgeliefert hatte und vom Textchef regelmäßig Komplimente für meine köstlichen Metaphern einstrich – ich elender Versager kaute und würgte seit Monaten an den ersten Sätzen meines geplanten Werkes herum, fand keine Worte und keine Geschichte.
Das war ja so was von ungerecht!
Ich stellte meinen Kaffeebecher auf Narcs Foto, weil ich von dem Kerl nicht angeschaut werden wollte. Für einen kurzen Moment dachte ich, ich könnte die schockierende Nachricht von Narcs
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