Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
plötzlichem Ruhm ja auch als glückliche Fügung betrachten, meinen alten Kumpel einfach mal anrufen, ihn bitten, mir einen Kontakt zu seinem Verlag herzustellen … Aber selbst wenn Narc so nett wäre, was ich ehrlich gesagt bezweifelte, was sollte ich den Verlagsleuten dann zeigen? Die beeindruckenden Gebrauchsspuren auf meiner Del -Taste?
Piet Lehmann , sagte ich zu mir selbst, du bist ein Versager!
Und da klapperte der Briefschlitz. Ich hatte es noch nie über mich gebracht, Post lange unbeachtet herumliegen zu lassen, und selbst an diesem selbstmitleidigsten all meiner selbstmitleidigen Tage erhob ich mich deshalb sofort nach dem Klappern, um zu sehen, ob wenigstens diesmal etwas Interessanteres durch den Schlitz gefallen war als eine wichtige, persönliche Mitteilung der NKL-Klassenlotterie, eine Rechnung der Hamburgischen Elektrizitätswerke oder der neue Katalog von Zweitausendeins . Ja, es war: Meine Mutter, die es offenbar leid war, auf einen Besuch von mir zu hoffen, hatte mir einen Brief geschickt. Es war ein DIN-A5-Umschlag. Und ich wusste sofort, was sich in seinem Inneren verbarg: Post von Bernhard!
Es war der mittlerweile neunte Brief meines alten Kirschkernspucker-Kumpels. Die letzten waren aus Zimbabwe, Peru und Tibet gekommen. Dieser stammte aus Birma!
Liebe Kirschkernspucker!
Manchmal denke ich, es müsste mich ein Heimweh packen, ich müsste das Bedürfnis verspüren, mich irgendwo niederzulassen. Doch es kommt nicht. Ich kann es nicht fassen, dass ausgerechnet ich es sagen darf, aber es stimmt: Ich bin bedingungslos glücklich! Ich führe das Leben, das ich leben will!
In mir krampfte sich alles zusammen! Wie gern würde ich das von mir behaupten können! Was war das Geheimnis? Warum konnte ich nicht zufrieden sein?
Mittlerweile bin ich in Birma angekommen. Ein unglaubliches Land – die Landschaft unfassbar schön, die Menschen so würdevoll. Hier herrscht eine brutale Militärdiktatur, doch es gibt eine starke Opposition, die für Gerechtigkeit und Demokratie kämpft. Ohne Waffen, sondern mit bloßer Beharrlichkeit und einem märtyrerhaften Mut. Es ist ein tapferes Aufbegehren, und manchmal scheint es fast möglich, dass hier eine Diktatur gestürzt werden könnte, ohne dass Waffen benutzt werden müssten.
Ob Bernhard in den entlegenen Ecken der Welt internationale Zeitungen kaufen konnte? Ob er wusste, dass in Deutschland ein Jahr zuvor genau das passiert war: eine Revolution aus Mut und Beharrlichkeit. Wusste Bernhard, dass jetzt nicht mehr Schwäbisch, sondern Sächsisch der scheußlichste Dialekt der Bundesrepublik Deutschland war?
Ich bin kein übermäßig politischer Mensch, wie Ihr wisst. Ich leiste hier, wie üblich, bloß humanitäre Hilfe. Ich arbeite gerade für ein französisches Entwicklungshilfeprogramm. Aber selbst an mir geht der revolutionäre Geist, der über dem Volk schwebt, nicht spurlos vorbei. Ich habe letzte Woche einen Mitarbeiter von Amnesty International getroffen, der mir von brutalen Folterungen der birmesischen Regierung erzählte. Ich spiele mit den Gedanken, AI zu unterstützen, mich zum ersten Mal auf die kämpfende, politische Seite zu schlagen. Doch mir fehlt noch der rechte Mut. Ach, wäre ich doch bloß nicht so feige!
Feige?
Ich konnte es nicht fassen: Bernhard fand sich feige ! Dieser Junge, dieser Mann, war mein Idol geworden! Er hatte noch als Kind die Flucht nach vorn angetreten, hatte sich aus allen Verankerungen gerissen und sich direkt hineingestürzt in das große Abenteuer. Irgendwo muss das Leben sein , hatte er gedacht. Und im Gegensatz zu den meisten von uns, im Gegensatz zu mir , besaß er den unfassbaren Mut, es zu suchen.
Bernhards regelmäßigen Berichte von der vordersten Front, dort, wo das wahre Leben stattfand, waren mir eine stete, schmerzhaft Mahnung, dass ich mich bewegen sollte, zu etwas drängen, nach etwas gieren. Feige? Ich wünschte, ich besäße nur Spurenelemente von Bernhards Mut! Ich wünschte, ich könnte eine Entscheidung fällen, die mich glücklich macht. Irgendeine!
Wenn ich sage, ich bin bedingungslos glücklich, dann stimmt das nur fast. Manchmal bin ich traurig, dass ich nie eine Antwort von euch bekommen kann. Was macht ihr? Wer seid ihr geworden? Kennt ihr euch überhaupt noch? Ihr seid meine einzige schöne Erinnerung an Deutschland, an mein früheres Leben.
Manchmal nehme ich in den Ländern, in denen ich gerade bin, an religiösen Festen teil. Ich glaube an keinen der Götter, die mir bislang
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