Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
vorgestellt wurden, aber es ist ein Gebot der Höflichkeit, bei diesen Ritualen mitzuwirken. Und all diese Rituale kommen irgendwann zu einem Punkt, der unserem Beten entspricht. Ein Erflehen guter Fügungen für die Menschen, die einem am wichtigsten auf der Welt sind. Ich bete dann immer für Euch. Denn, wer weiß: Vielleicht bringt es ja etwas …
Ich liebe euch!
Bernhard
Ich fühlte mich so unsagbar klein. Ich war ein Niemand. Ich war völlig irrelevant! Was war das für ein Tag, der mir gleich zweimal, direkt hintereinander, dermaßen brutal meine völlige Bedeutungslosigkeit, mein totales Versagen in Sachen Leben vor Augen führte?
Nun, es war der 9. Oktober 1990. Und der Tag hatte erst begonnen!
Als Nächstes – es war früher Nachmittag – rief mich Sven an. Sven und ich waren in den letzten Jahren wieder ganz dicke Freunde geworden, dicker denn je sogar. Ich hatte nämlich angefangen, Sven nicht mehr als Anhängsel zu betrachten, sondern ihn ernst zu nehmen – mehr noch: Manchmal schaute ich mittlerweile sogar zu ihm auf. Denn Sven ließ sich nicht mehr von mir herumkommandieren, sondern hatte seinen sehr eigenen Kopf entwickelt. Sven war eine stete Inspiration geworden. Mein ehemals völlig verschüchterter Sandkistenfreund packte sich das Leben inzwischen mit beiden Händen, anstatt es, so wie ich, einfach ungenutzt vorbeirauschen zu lassen. Er hatte einen grandiosen, ultratrockenen, scharfsinnigen und stets blitzschnell aus der Hüfte geschossenen Humor entwickelt, der seinesgleichen suchte. Und rund um Sven schwirrten die erstaunlichsten Menschen herum, an deren Exotik, Phantasie und Exzentrik ich als Svens Freund teilhaben durfte. Schauspieler, Musiker, Maler – Sven kannte durch seine Arbeit am Theater, durch seine Verankerung in der schwulen, kreativen Szene Hamburgs ganz verblüffende Leute. Selbst den Arschlöchern unter ihnen musste man zumindest eine gewisse Einzigartigkeit unterstellen.
Knut, dem ich mich ebenfalls sehr verbunden gefühlt hatte, war allerdings nicht mehr da. Der war vor zwei Jahren von Chantal als Regisseur und musikalischer Leiter ihres/seines neuen Programms engagiert worden. Die beiden harmonierten offensichtlich nicht nur im musikalischen Bereich, denn nach ihrer ersten gemeinsamen Tournee kehrte Knut nicht mehr nach Hamburg zurück, sondern zog zu Chantal nach Berlin. Sven war natürlich traurig, aber nicht am Boden zerstört. »Die erste Liebe ist nie für ewig«, sagte er damals. Und gerade mal drei Monate später stellte er uns Hakan als seinen neuen Freund vor. Hakan war Bauchtänzer. Und Hakan konnte Baklava zubereiten wie niemand sonst auf diesem Planeten!
Doch zurück zum Wesentlichen. Zurück zu mir. Zurück zum 9. Oktober 1990. Also: Sven rief an.
»Piet«, sagte er, und er klang seltsam ernst, »Piet. Sitzt du gerade?«
»Äh … Nein«, sagte ich.
»Dann setz dich«, befahl Sven. »Ich muss dir etwas sehr Wichtiges sagen …«
Oh Gott! Ich schäme mich, es zuzugeben, aber als leider keineswegs vorurteilsfreier Hetero rechnete ich fest damit, dass Sven mich nun davon in Kenntnis setzen würde, er sei HIV-positiv.
»Sitzt du?«, fragte Sven. Er flüsterte fast, klang erschöpft und voller Traurigkeit.
»Ja«, keuchte ich, mit dem Schlimmsten rechnend.
»Piet …« Es war fast nur noch ein Hauchen. »Piet … es geht um Susann.«
Nein!
Susann!
Tot?
»Susann …«, flüsterte Sven – und dann erhob sich plötzlich seine Stimme zu einem kreischenden, triumphierenden, begeisterten Juchzen: »Susann trennt sich von Norbert!!!«
Was?
»Susann! Trennt! Sich! Von! Norbert! Susann trennt sich von Norbert! Susann trennt sich von Norbert!«, sang Sven wie einen Ätschi-Bätschi -Kinderreim.
Ich war völlig perplex.
»Norbert ist Geschichte!«, jubilierte Sven.
Ich sagte immer noch nichts.
»Piet? Piet?«, fragte Sven. »Bist du noch da?«
»Ja«, murmelte ich. »Wie? Was?«
»Stell dir vor«, begann der immer noch völlig begeisterte Sven zu berichten. »Norbert wird von seiner Firma nach London versetzt. Irgend so ein Mr.-Wichtig-Schlips-und-Sekretärin-Job. Und gerade als Susann Norbert anmeckern will, dass er sie nicht einmal gefragt hätte, ob sie überhaupt bereit sei, nach England umzuziehen, da kommt er plötzlich damit raus, dass sie auch gar nicht mitkommen soll. Er wolle allein fahren! Etwas Abstand brauche er, und all das Gesülze. Und eine Viertelstunde später enthüllt er ihr dann widerwillig die ganze Geschichte: dass
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