Die Depressionsfalle
und die SSRIs als Substanzen verkaufte, die den Gehirnstoffwechsel ânormalisierenâ wie das Insulin den Zuckerstoffwechsel. Daher benannte man die unerfreulichen Zustände, die beim Absetzen von SSRI auftraten, eben nicht mit dem negativ besetzten Begriff âEntzugserscheinungenâ wie im Falle des Absetzens von Benzodiazepinen oder Opiaten, sondernâAbsetzerscheinungenâ, wie man es im Falle von körperlich wirksamen Stoffen gewohnt war. Für die Pharmaindustrie war dadurch eine ideale Situation entstanden: Zum einen war garantiert, dass die Diagnose Depression zur Folge hatte, dass die Substanzen über einen langen Zeitraum, eventuell lebenslang, verordnet wurden, und dass âAbsetzerscheinungenâ nicht dazu führten, dass die Patienten von der Substanz entwöhnt wurden, sondern dass man sie ihnen sogar in eventuell höherer Dosis empfahl â weil sie die Substanz eben aufgrund ihres âgestörten Hirnstoffwechselsâ zu benötigen schienen.
Um den positiven Wert, dass die SSRI nicht abhängig machen, zu unterstreichen, wurde die Aufmerksamkeit wieder verstärkt darauf gerichtet, dass ältere Arzneimittel, vor allem die Benzodiazepine, mit einem hohen Abhängigkeitsrisiko befrachtet wären. Um die Legende aufrechtzuerhalten, war es notwendig, eine Theorie zu verkaufen, die viele Schwächen aufwies, und war es offenkundig auch notwendig, vieles zu verschweigen, das bei der Anwendung der Substanzen zu erkennen war: schwere und gefährliche Nebenwirkungen und Abhängigkeitsprozesse. 71
Die âAffäre Healyâ
Welche Bedeutung es für die Pharmaindustrie hatte, die Fachwelt, die Gesundheitspolitik und die Konsumenten über Nebenwirkungen und eventuell schädliche Wirkungen im Unklaren zu lassen, verdeutlichte ein Konflikt, den der bekannte walisische Psychiater David Healy auslöste. Healy ist ein international respektierter Psychiater, Psychopharmakologe, Forscher und Autor. Er hatte in Dublin und an der Universität Cambridge Medizin studiert, bevor er seine Spezialausbildungen absolvierte und schlieÃlich eine Professur in Wales annahm. Er fungierte als Sekretär der British Association for Psychopharmacology. Er verfasste viele einschlägige Artikel und veröffentlichte etliche Bücher zur Psychopharmakologie, die als Standardwerke gelten. Daher gilt er als ausgewiesener Experte in diesem Themenbereich und stand in dieser Funktion durchaus auch in Beziehung zur pharmazeutischen Industrie. Allerdings befasste er sich auch mit Nebenwirkungen der SSRI und war als Expertein Gerichtsverhandlungen involviert, in denen über eine eventuell auslösende Funktion psychoaktiver Substanzen für Selbstmord oder Aggression befunden wurde.
Im Jahre 2000 trug er im Rahmen eines Kongresses in Toronto seine Ãberlegungen über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch von Prozac/Fluctine, erhöhter Selbstmordneigung und Aggressivität vor. An sich kein neues Thema, da 1985 Fluoxetin in Deutschland nicht registriert worden war, weil Bedenken hinsichtlich der selbstmordfördernden Wirkung der Substanz geäuÃert und die ersten Erfahrungsberichte über diesen Zusammenhang bereits 1990 in hochrangigen Medizinjournalen veröffentlicht worden waren. Healy wies lediglich darauf hin, dass man sich seitens der Pharmaindustrie und der klinischen Forschung dieses Problems bislang nicht ausreichend angenommen habe. Man habe weder Versuche unternommen, die Dimension des Problems zu erfassen, noch Strategien entwickelt, diese schlimmen Auswirkungen zu begrenzen.
Trotzdem war der Vortrag ein Stich ins Wespennest, der unerwartete und äuÃerst heftige Reaktionen auslöste und Healys weitere Karriere entscheidend beeinflusste. Die Pharmaindustrie sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, Substanzen wider besseres Wissen als de facto risikofrei auf den Markt gebracht zu haben und dabei so schwerwiegende Effekte verschwiegen zu haben wie ein erhöhtes Selbstmordrisiko, und zwar gerade bei den Patienten, die unter Selbstmordneigungen leiden. Was dann geschah, wird von manchen kritischen Beobachtern der Machtspiele der Pharmaindustrie als Lehrstück für die Bereitschaft der Pharmaindustrie, politische Macht auszuspielen, und für die konzertierten Reaktionen von Industrie und akademischer Welt angesehen.
Healy war für 2001 ein Posten als Leiter eines Forschungsprogramms im Zentrum für Sucht und
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