Die Depressionsfalle
Gemütszustands durchzuführen. Damit entstand eine neue Falle: die Krankschreibung der Normalität. Eine neue Spezies trat in Erscheinung: die der âkranken Gesundenâ.
Die Entwicklung birgt Gefahren in sich, deren man sich bewusst sein sollte. Zum einen ist es fragwürdig, die tief verankerten, gerechtfertigten und ânormalenâ Bedürfnisse der Menschen nach Wohlbefinden und psychischer Ausgeglichenheit in den Kontext einer Diagnose zu bringen und damit zu krankhaften Bedürfnissen umzudefinieren. Noch fragwürdiger ist es in ethischer Hinsicht, dass die Befriedigung dieser Bedürfnisse auf chemischem Weg die Krankschreibung voraussetzt.
Falle 2: Psychopharmakologische Allmachtsfantasie
Hinsichtlich der psychopharmokologischen Interventionen ist die Psychiatrie in die Falle geraten, die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zu trivialisieren und für Erfolgsversprechen zu nutzen, die sich nicht realisieren lassen. Damit übte sie entscheidenden Einfluss auf die Bereitschaft der Ãrzteschaft aus, die Substanzen relativ unkritisch zu verschreiben.
Falle 3: Banalisierung der depressiven Erkrankung
Auf diesem Weg geriet die Psychiatrie in Theorie und Praxis gemeinsam mit ihren Patienten in die Falle der Banalisierung der schweren Erkrankung Melancholie. Elizabeth Wurtzel beschrieb eindrücklich, wie sehr sie die Meldungen über die massive Verbreitung der Depression und die massive Ausbreitung des Konsums von Antidepressiva als Hohn empfand: âJahrelang hatte ich versucht, zu erreichen, dass die Depression ernst genommen wird â indem ich sagte, ich habe eine Krankheit, ich brauche Hilfe â und nun, da die Anerkennung kein Thema mehr ist, erscheint diese Krankheit als eine absolute Trivialität.â 79 Sie fürchtete, dass die Auffassung, die SSRI seien legale Lifestyle-Drogen, dazu führen werde, dass die Leute, die sie wirklich brauchen, das Vertrauen auf ihre ernstzunehmende antidepressive Wirkung verlieren. Auch schien es ihr möglich, dass durch die Trivialisierung des Themas in Vergessenheit gerät, wie schwer und belastend die Krankheit Depression sein kann. Die wirklich Leidenden, meinte sie, werden bei der gesellschaftlichen Aufregung, die um die SSRI entstanden ist, vergessen.
Dass die Banalisierung der Depression nicht nur Auswirkungen auf die Wahrnehmung der schweren Depression haben musste, sondern auch eine Falle für die âneuen Depressivenâ und die âkranken Gesundenâ darstellte, wurde ebenfalls nicht beachtet. Die Beeinträchtigung der beiden Gruppen verlief in divergente Richtungen: Während für die schwere Depression das Problem bestand, dass sie ihren speziellen Krankheitswert einbüÃte und das Leiden der Erkrankten nicht mehr ausreichend gewürdigt wurde, waren die âkranken Gesundenâ, die âkosmetischâ mit SSRI behandelt wurden, davon bedroht, dass man ihnen eine Krankheit zuschrieb und man sie damit einer Stigmatisierung aussetzte, die umso belastender sein musste, als man alle Zustandsbilder, die auf eine Behandlung mit SSRI ansprechen sollten, auf Störungen des Gehirnstoffwechsels zurückführte: aus âkranken Gesundenâ wurden Hirnkranke.
Es ist interessant, dass die Produktionsfirma von Prozac, Eli Lilly, diese Falle als Bedrohung empfand. Auf jeden Fall betrieb sie 1993 in der medizinischen Fachpresse in den USA unter dem TitelâVerharmlosung einer ernsten Erkrankungâ eine Aufklärungskampagne. Lilly beklagte das Medienecho auf das Produkt, das dazu geführt habe, dass selbst eine neue Kategorie von Witzen entstanden sei. In diesem Prozess sei die ernsthafte Natur der klinischen Krankheit Depression, für die Prozac entwickelt worden sei, trivialisiert worden. Steven Paul, der Leiter der zuständigen Forschungsabteilung bei Lilly, führte 1993 im
Wall Street Journal
aus, dass die Kampagne denjenigen nützen solle, die die Substanz am nötigsten brauchen: Die in der Ãffentlichkeit verbreiteten Unklarheiten über den angemessenen Gebrauch von Prozac und anderen Antidepressiva könnten zur Folge haben, dass bedürftige Patienten diese Mittel meiden und Ãrzte zögern, sie zu verschreiben. So schön, so gut. Man wollte offenkundig vergessen machen, dass der Prozac-Hype gerade darauf aufgebaut war, dass zunächst angenommen wurde, dass das Arzneimittel bei schwerer Depression wirkungslos sei, hingegen bei milden und
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