Die Depressionsfalle
Dafür reichen zwei Fragen. Diese Screening-Methoden treiben die Häufigkeit der Diagnose in die Höhe. Sie gehören zum Rüstzeug der Ãrzte und erleichtern die Bereitschaft, die Diagnose auszusprechen. Besonders dann, wenn die Patienten selbst sie schon gefällt haben, bevor sie in die Sprechstunde gekommen sind.
Das erweiterte Spektrum der Depression und das erweiterte Feld der ärztlichen Intervention wurde ebenfalls durch die Entwicklung der Psychopharmaka mitbedingt. In den 80er Jahren entstand eine Art psychopharmakologische Allmachtsfantasie. Im Ãbereifer, sich als medizinische Disziplin zu positionieren und psychische Leidenszustände wie somatische Erkrankungen zu behandeln, ging die biologische Psychiatrie eine Zweckgemeinschaft mit der Pharmaindustrie ein. Diese Gemeinschaft führte dazu, dass die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über mögliche Zusammenhänge zwischen bestimmten Vorgängen im Hirnstoffwechsel und krankhaften psychischen Zustandsbildern zu propagandistischen Zwecken trivialisiert und für Erfolgsversprechen genutzt wurden, die sich nicht realisieren lieÃen. In diesem Prozess wurde vor allem auÃer Acht gelassen, dass es im Psychischen keine so scharfen Grenzen zwischen ânormalâ und âpathologischâ gibt wie in der somatischen Medizin, und dass die Arzneimittel keinen âNormalzustandâ herstellen können, auch wenn die Konsumenten sichmöglicherweise für einige Zeit durch die Einnahme ânormalisiertâ fühlen. Das resultiert prinzipiell daraus, dass wir nicht davon sprechen können, dass ein bestimmter Zustand des neuroendokrinen Systems den Normalzustand darstellt. Aufgrund von Erkenntnissen über die Funktion von bestimmten Botenstoffen kann man mit Arzneimitteln gezielt Einfluss auf Erfahrung, Wahrnehmung, Gedächtnis und affektiven Respons nehmen. Es wird aber dadurch lediglich ein veränderter Zustand der neuronalen Situation eingeleitet. Die Person, die unter dieser Behandlung steht, unterscheidet sich daher hinsichtlich ihrer Gehirnfunktion von den Personen, mit denen sie sozialen Umgang pflegt und die dieser Substanzen nicht bedürfen. Sie ist nicht âgleicherâ geworden als zur Zeit der manifesten Symptomatik, sie unterscheidet sich lediglich auf anderem Niveau. Eine Normalisierung durch Medikamenteneinnahme würde voraussetzen, dass der Zustand, den die Arzneimittel bewirken, zur neuen Norm wird, das heiÃt, dass alle diese Substanzen einnehmen müssen. Selbst diese dystope Vorstellung könnte aber illusorisch sein, da gar nicht davon ausgegangen werden kann, dass nicht die a priori gegebenen individuellen Unterschiede auch nach der Gleichschaltung durch Substanzwirkungen in modifizierter Form weiter bestehen. Drogenkonsumierende Subkulturen, die dieses sozial-pharmakologische Experiment leben, sind keineswegs intellektuell, kognitiv und emotionell nivelliert. Auch ist es ein psychopharmakologischer Grundsatz, dass die Wahrnehmung des Effekts einer psychoaktiven Substanz niemals ausschlieÃlich von der chemische Wirkung allein abhängt, sondern von einer Fülle von Einflussfaktoren aus der Individualität des Gebrauchers und seines sozialen Umfeldes beeinflusst wird.
Die Warnung Leo Hollisters vor einem pharmakologischen Reduktionismus gilt heute wie in den 1950er Jahren, als Hollister sein Bedenken zum Ausdruck gebracht hat. Auch heute sind wir noch weit davon entfernt, die Zusammenhänge zwischen dem Chemismus der Hirnvorgänge und den psychischen Zustandsbildern exakt zu erfassen, und wir verfügen in diesem spannenden Forschungsbereich noch nicht über eine überzeugende Theorie. Und auch heute noch besteht jederzeit die Möglichkeit, dass â wie im Falle derSerotonin-Hypothese â eine für den klinischen und ökonomischen Bedarf vereinfachte wissenschaftliche Annahme einen Hype auslöst.
Der Hype der 80er Jahre, der um die Serotonin-Hypothese und den Einsatz der SSRI entstand, war im Wesentlichen dadurch bedingt, dass man meinte, mit den neuen Präparaten über Arzneimittel zu verfügen, die in ihrer Anwendung sicher sind, ein günstiges Nebenwirkungsprofil aufweisen und aufgrund ihrer geringen akuten Toxizität nicht als Mittel zur Selbsttötung geeignet sind. Vor allem aber vertraute man darauf, dass sie keine Abhängigkeitsprozesse auslösen. Wir haben im Kapitel über die Geschichte der Antidepressiva
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