Die Depressionsfalle
psychiatrischen âStörungenâ, die in diesem diagnostischen Manual festgeschrieben ist, ist wohl kaum ein geeignetes Mittel, das erschütterte Vertrauen wiederzugewinnen. Bei der unveränderten biologischen Ausrichtung der Psychiatrie als akademischer Disziplin kann man sich leicht vorstellen, dass die Vermehrung von Diagnosen einerseits eine Vermehrung von Menschen, die als âgehirnkrankâ gelten, als auch andererseits eine Flut von âkorrigierendenâ Arzneimitteln mit sich bringen wird, und dass sich die Psychiater auch weiterhin dem Vorwurf ausgesetzt sehen werden, Diagnosen zu erfinden, die dem Wachstum der Märkte und damit dem Umsatz der Pharmafirmen mehr bringen als den Patienten. Undes ist auch leicht abzusehen, dass die Pharmaindustrie mit immer mehr Tricks arbeiten wird, um aus dem erweiterten Markt immer mehr Profit zu ziehen.
Obwohl sich etliche der biologischen Vorstellungen als illusorisch erwiesen haben, rückt die Diagnostik, die nach dem DSM betrieben werden soll, nicht davon ab, den Einfluss psychoanalytischer und anderer dynamischer Ausrichtungen möglichst zu beschränken. Dadurch ist es auch weiterhin nicht möglich, dem breiten Spektrum der âDepressionskrankheitenâ ein alternatives, umfassendes Konzept entgegenzustellen. Für die Patienten resultiert aus dieser Eindimensionalität das Problem, dass im Sinne der biologischen Theorie die Ursache auch leichter Störungen in der gestörten Hirnfunktion gesucht werden wird. Das psychoanalytische Neurosenmodell, das grundsätzlich keine scharfen Grenzen zwischen Normalität und Abweichung zieht, lässt der âNormalitätâ einen viel weiteren Raum und ist daher weniger stigmatisierend.
Die Folgen der Verbannung der Psychoanalyse aus der Klinik und Diagnostik sollte neu überdacht werden. Ãberlegenswert scheint es allemal, den Prozess rückgängig zu machen, der besagt, dass âdie Neurose in der Depression verschwindetâ, wie Alain Ehrenburg schreibt, und den Zustand wieder herzustellen, in dem die Depression ihren Platz in der Neurose gefunden hat. Ein GroÃteil der Patienten würde von diesem âPsychoanalytischen Revisionismusâ profitieren und die Epidemiologie an Spezifität gewinnen. SchlieÃlich ist auch an der Wende zum 20. Jahrhundert die Psychoanalyse aus der frühen biologischen Psychiatrie hervorgegangen, weil schon damals die biologische Interpretation ihre Versprechungen nicht einlösen konnte.
Die Fraktionskämpfe innerhalb der Psychiatrie und der Wettkampf um Marktanteile in der Versorgung schaden dem Image der Profession und bringen den Patienten erhebliche Nachteile. SchlieÃlich ist es nicht so lange her, dass verschiedene Zugänge zum seelischen Leiden offenstanden, in denen auf gleichberechtigte Weise Möglichkeiten entwickelt wurden, das individuelle Leiden zu behandeln. In einer guten Kooperation zwischen den Teildisziplinen und den Vertretern biologischer und dynamischer Zugänge liegt die Chance, Synergien zu entwickeln, die der bestmöglichen Versorgungder seelisch Leidenden zugute kommen. Es wäre Zeit, dass man sich dieser schönen Tradition wieder bewusst wird. Die psychoanalytischen Psychiater wussten bereits viel über die Krankheit Depression, bevor noch das Interesse an dem Phänomen durch die neuen pharmakotherapeutischen Möglichkeiten geweckt worden war. Nicht zuletzt aus diesem Grund haben wir eingangs für die exemplarische Darstellung der depressiven Symptome einem frühen psychoanalytischen Psychiater das Wort geredet.
Neue Vertrauensbildung in der Psychiatrie
Der Vertrauensverlust, der die Psychiatrie betrifft, kann nicht dadurch ausgeglichen werden, dass in der Patienteninformation und in Statements von Fachgesellschaften zu gravierenden Problemen der Behandlung beschwichtigende Aussagen getroffen werden, die erneut das Misstrauen schüren können. Es ist zum Beispiel hinsichtlich der Vertrauensbildung nicht produktiv, wenn die gesellschaftliche und mediale Problematisierung des Verhältnisses von Pharmakabehandlung, Suizidneigung und Aggression von einer psychiatrischen Fachgesellschaft damit beantwortet wird, dass das Medium kritisiert wird und die Probleme heruntergespielt werden. Vernünftiger wäre es wohl, in einen Diskurs einzutreten, in dem die Probleme offen eingestanden und in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit besprochen werden. Schon allein
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