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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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nicht sie hat aus dem gesundheitstrahlenden Germanen unseren skrophulösen, aus Haut und Knochen gewebten Leineweber, aus jenem Siegfried einen Gottlieb, aus Speerschwingern Dütendreher, Hof rate und Herrjesusmänner zu Stande gebracht, - sondern der Ruhm dieses glorreichen Werkes gehört unserer pfäffischen Pandektencivilisation mit all ihren herrlichen Resultaten, unter denen, neben unserer Industrie, auch unsere unwürdige, Herz und Geist verkümmernde Kunst ihren Ehrenplatz einnimmt, und welche schnurgerade aus jener, unserer Natur ganz fremden Civilisation, nicht aber aus der Notwendigkeit dieser Natur herzuleiten sind.«
    Die Wiedergeburt des Germanentums konnte für Wagner nur aus dem Geiste der Kunst als der »höchsten gemeinschaftlichen Lebensäußerung des Menschen« geschehen. Doch bevor die Kunst Deutschland erlösen konnte, musste zunächst einmal die Kunst selbst erlöst werden - von allen Zersplitterungen und Zwängen, die sie nicht weniger lähmten als Siegfrieds degenerierte Nachfahren. Im »Kunstwerk der Zukunft« sollte zusammenwachsen, was zusammengehörte, inhaltlich wie formal: Die Gegenwart sollte mit der ältesten Vergangenheit, dem nordisch-germanischen Sagenschatz verschmelzen, während die verschiedenen Einzelkünste von der Musik über das Drama bis hin zur bildenden Kunst aufhören sollten, isoliert nebeneinanderher zu existieren. Der Gesamtkunstwerker war der Avantgardist, der die neuzeitliche Arbeitsteilung und die damit einhergehende Entfremdung überwand, bevor die Gesellschaft reif dafür war. Wagner machte Ernst mit dem, wovon bereits Schiller und die Romantiker geträumt hatten: eine Kunst zu schaffen, die den ganzen Menschen erfasste.
    Als größte Todsünde seiner Zeit hatte Wagner den »Egoismus« ausgemacht. Er witterte ihn nicht nur in den zwischenmenschlichen Beziehungen, in den sozialen Verhältnissen, sondern ebenso in der Musik. Zwar begrüßte der Revolutionär ebenso wie der Komponist die Emanzipation des Einzelnen als notwendigen Fortschritt. Diese Emanzipation wurde für ihn jedoch in dem Moment zur Perversion, in dem der Einzelne aus den tradierten Systemen nur deshalb ausbrach, um künftig ganz für sich allein zu stehen - anstatt in der Befreiung von alten Gemeinschaftsbanden die Befreiung zu einer neuen Art von Gemeinschaft zu erkennen. Wie fließend in Wagners Denken die Übergänge zwischen Gesellschaftstheorie und ästhetischer Theorie waren, zeigt eine Passage aus Oper und Drama, jenem Essay, in dem er die Theorie seines Gesamtkunstwerks ausführlich entwickelte: »Diese Haupttöne sind gewissermaßen die jugendlich erwachsenen Glieder der Familie, die sich aus der gewohnten Umgebung der Familie heraus nach ungeleiteter Selbstständigkeit sehnen: Diese Selbstständigkeit gewinnen sie aber nicht als Egoisten, sondern durch Berührung mit einem andren, eben außerhalb der Familie Liegenden.« Und weiter: »Die Jungfrau gelangt zu selbstständigem Heraustreten aus der Familie nur durch die Liebe des Jünglings, der als der Sprössling einer anderen Familie die Jungfrau zu sich hinüberzieht. So ist der Ton, der aus dem Kreise der Tonart hinaustritt, ein bereits von einer andren Tonart angezogener und von ihr bestimmter, und in diese Tonart muss er sich daher nach dem notwendigen Gesetze der Liebe ergießen. Der aus einer Tonart in eine andre drängende Leitton, der durch dieses Drängen allein schon die Verwandtschaft mit dieser Tonart aufdeckt, kann nur als von dem Motive der Liebe bestimmt gedacht werden.« Der Musik bescherte Wagner mit dieser Philosophie eine revolutionäre Befreiung: Sie begann, sich vom System der Tonarten, das sich im Abendland herausgebildet hatte und dem sich alle bisherigen Komponisten unterworfen hatten, in Richtung einer freieren Tonalität zu emanzipieren. Der »Leitton« ist das Prinzip, das die Wagnersche Musik zu einer so eigentümlich schwebenden, rastlos drängenden, ewig sehnenden macht - zur kongenialen Musiksprache für Dramen, die davon erzählen, wie zwei Menschen alle familiären und sonstigen Ketten herkömmlicher Wohlanständigkeit sprengen, um ganz ineinander zu versinken: Senta und ihr »fliegender Holländer«, Elisabeth und Tannhäuser, Tristan und Isolde, Siegfried und Brünnhilde.
    Doch Wagner war nicht nur ein Befreier der Musik. Im Rahmen seiner Geschlechtertheorie - die er wie seine gesellschaftstheoretischen Überlegungen eins zu eins auf musikdramatische Zusammenhänge übertrug - legte er ihr neue Fesseln

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