Die deutsche Seele
[…] gänzlich allein nur [ihm] in die Hände gelegt werden darf«, war Wirklichkeit geworden. Mochte das soeben gegründete Kaiserreich - das sowohl Wagner als auch Ludwig verachteten - sein Zentrum in Potsdam haben, zur Hauptstadt der Kulturnation, des »wahren Deutschland«, wurde Bayreuth.
Einer der geladenen Gäste, die in das oberfränkische Städtchen pilgerten, war Friedrich Nietzsche. Der Philosoph und Altphilologe, der den Christengott in den Orkus schicken wollte, um den Übermenschen aus der Taufe zu heben, war Wagner mit Haut und Haaren verfallen. 1872 hatte er seine erste große Abhandlung Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik veröffentlicht. Obwohl Wagner selbst nie darum verlegen gewesen war, seine Werke mit einem gewaltigen theoretischen Überbau zu versehen, leistete Nietzsche zusätzlich philosophische Schützenhilfe: »Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen [d. h. der reflektierenden] Kultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Übermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.« Damit lobte Nietzsche an der Musik, am musikdramatischen Gesamtkunstwerk genau das, was sie dem geräuschempfindlichen Rationalisten Kant so suspekt gemacht hatte: ihren Überwältigungscharakter. Was auch Hegel noch in aller Distanz formuliert hatte: »Die eigentümliche Gewalt der Musik ist eine elementarische Macht« - bei Nietzsche wurde es zur leidenschaftlichen Befürwortung. Zu spät erkannte der verzweifelte Vitalist, der die Menschheit lehren wollte, neue Feste zu feiern, dass auch sein Gott Wagner in Wahrheit nicht zum Leben, sondern zum Sterben einlud. Und zwar - anders als Nietzsche sich einredete - nicht erst mit dem Bühnenweihfestspiel Parsifal, das der enttäuschte Philosoph als krankhaft christlichen Askesezirkus niedermachte. Wäre der junge Nietzsche weniger betört gewesen, hätte er von Anfang an erkennen können, dass die Wagnerschen Erlösungswerke das Dasein nur deshalb ekstatisch bejahten, um es im nächsten Augenblick endgültig zu verneinen. »In dem wogenden Schwall, / in dem tönenden Schall, / in des Welt-Atems / wehendem All -, / ertrinken, / versinken -, / unbewusst -, / höchste Lust!« So beseelt stirbt etwa Isolde ihren Liebestod - nur eine von vielen Wagnerfiguren, deren ganzes Streben danach zielt, endlich ins Nichts hinübergleiten zu dürfen.
Der Philosoph, in dem Wagner sein eigenes Denken wie in keinem zweiten widergespiegelt glaubte, war nicht der arme, heillos ergebene Nietzsche: Es war Arthur Schopenhauer. Im Herbst 1854 hatte Wagner sich zum ersten Mal in dessen Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung vertieft. Wenige Monate später schrieb er an seinen künftigen Schwiegervater Franz Liszt: »Was sind vor diesem alle Hegels etc. für Charlatans! Sein Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von furchtbarem Ernste, aber einzig erlösend. Mir kam er natürlich nicht neu, und niemand kann ihn überhaupt denken, in dem er nicht bereits lebte.«
Wagners Begeisterung für Schopenhauer war kein bloßer Narzissmus. Der philosophische Hagestolz, der am glücklichsten war, wenn er daheim auf seiner Flöte Mozart und Rossini spielen konnte, war der erste Denker, der bereit war, der Musik nicht nur den einsamen Königsplatz unter den Künsten einzuräumen, sondern sie gar in den Rang der Philosophie zu erheben. In Abwandlung der früheren Definition, die Leibniz von der Musik gegeben hatte, erklärte er diese als »eine unbewusste Übung in der Metaphysik, bei der der Geist nicht weiß, dass er philosophiert«.
Was war in der deutschen Philosophie geschehen, dass die Musik zu solch höchsten Ehren gelangen konnte? Sie war radikal vernunftskeptisch geworden. Hatte Kant noch das »Ding an sich« als eine Art zentrales Welthirn angenommen, das jedes Individuum zur Vernunft befähigte, war Hegel von einem »Weltgeist« ausgegangen, der zwar schon etwas grobschlächtiger, aber dennoch vernünftig durch die Geschichte marschierte, hatte Schopenhauer den Glauben verloren, dass hinter dem Weltgeschehen eine wie auch immer geartete Vernunft steckte. Für ihn wurde die Welt von einem blinden, somatischen Willen bewegt. Der
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