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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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andre sich mit unruhiger Geschäftigkeit betäuben, und von verwirrten Gedanken, wie von einem Heer fremder Nachtvögel und böser Insekten, umschwirrt, endlich ohnmächtig zu Boden fallen; - oh, so tauch’ ich mein Haupt in dem heiligen, kühlenden Quell der Töne unter, und die heilende Göttin flößt mir die Unschuld der Kindheit wieder ein, dass ich die Welt mit frischen Augen erblicke und in allgemeine, freudige Versöhnung zerfließe.« So beschrieb Wilhelm Heinrich Wackenroder Die Wunder der Tonkunst.
    Das Zitat zeigt, wie vollständig die Musik im Denken und Fühlen der Romantiker die Religion beerbt hatte: Dem von der Welt Erschöpften, mit Mühsal Beladenen, bot sie erlösenden Seelentrost. Und als wäre dies allein nicht Wunder genug, sollte sie ihn auch noch reinwaschen, sein Herz in den Stand kindlicher Unschuld zurückversetzen. »Seid umschlungen Millionen! / Diesen Kuss der ganzen Welt!« - es war dieselbe Sehnsucht, der Beethoven ein Vierteljahrhundert später im letzten Satz seiner Neunten Sinfonie Ausdruck verlieh, als er im Verbrüderungsrausch zu Schillers utopischer Ode An die Freude griff.
    Nun schrieben die Romantiker der Musik ihre wundersam seelenheilende Wirkung aber gerade deshalb zu, weil sie ohne Worte, ohne Begleittext auskam. Gegen die pietistischen Vorgänger, die einzig dem Gesang frommer Verse Heiligkeit zugebilligt hatten, und gegen die Franzosen und Italiener, die noch immer die Oper für die höchste Gattung der Tonkunst hielten, entwarfen die deutschen Musikschriftsteller um 1800 herum das radikale Programm einer »reinen« Musik. »Wenn von der Musik als einer selbstständigen Kunst die Rede ist, sollte immer nur die Instrumentalmusik gemeint sein, welche, jede Hülfe, jede Beimischung einer anderen Kunst verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen der Kunst rein ausspricht.« So kategorisch drückte es der musizierende Dichter E.T.A. Hoffmann in seiner Rezension zu Beethovens Fünfter Sinfonie aus. Obwohl er selbst sich nur an einer einzigen Sinfonie versuchte und ansonsten Vokalmusik, Bühnenwerke und Kammermusik komponierte, ließ er keinen Zweifel daran, dass er jene Gattung für den Gipfel der Musik hielt.
    Wie unerhört neu diese Musikform damals war, ist heute kaum mehr nachzuempfinden: Weder eignete sie sich zum Tanzen noch zum Mitsingen, noch bot sie einem Virtuosen die Gelegenheit, auf seinem Instrument zu brillieren, noch gab sie ein gepflegtes Hintergrundgeräusch beim Tafeln ab, als welches man die Kammermusik problemlos missbrauchen konnte. Wer eine Sinfonie hören wollte, musste in den Konzertsaal pilgern. Doch anders als der Opernzuschauer bekam er dort keine großen Dramen von Liebe, Tod und Leidenschaft geboten, sondern - ja, was eigentlich?
    Der Aufstieg der Sinfonie hatte mit Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart begonnen. Ersterer hatte bereits behauptet, dass seine Musik eine »Sprache« sei, die auf der ganzen Welt verstanden werde, weil sie ohne Text und Handlung imstande sei, »Charaktere« darzustellen. Zur »Oper der Instrumente«, zum »ganzen Drama an menschlichen Affekten«, als welche die Romantiker sie verehrten, wurde die Sinfonie jedoch erst mit Beethoven.
    Anders als die beiden Österreicher produzierte dieser seine Sinfonien nicht am laufenden Band, sondern beschränkte sich auf die magisch gewordene Zahl Neun, die nach ihm (fast) kein sinfonischer Komponist mehr zu überbieten wagte. Jeder Musikgebildete erkennt die Hauptthemen der Beethoven-Sinfonien sofort - wohingegen er in Verlegenheit geriete, verlangte man Ähnliches im Fall der über hundert Haydn- oder gut vierzig Mozart-Sinfonien.
    Diese Selbstbeschränkung war nicht nur dem Beethovenschen Drang geschuldet, als Künstler ein möglichst stimmiges, geschlossenes Oeuvre zu hinterlassen. (Er war der erste Komponist, der seine Werke selbst mit Opuszahlen versah. Nicht einmal die Hälfte seiner Kompositionen hielt er für wert, in den Kanon aufgenommen zu werden. Der von Klavierschülern aller Länder millionenfach totgeklimperten Bagatelle Für Elise etwa versagte er diese Ehre.) Die Reduktion entsprang vor allem Beethovens Bedürfnis, mit jedem einzelnen Werk etwas Einzigartiges, Unverwechselbares zu sagen.
    »Schicksalssinfonie«, »Pastorale«, »Apotheose des Tanzes«: Auch wenn die Titel bzw. Charakterisierungen größtenteils nicht von Beethoven selbst stammen, zeigen sie, dass seine Sinfonien nicht »bloß« Musik sind, sondern ihnen ganz bestimmte -

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