Die deutsche Seele
versuchte E.T. A. Hoffmann den Bildersturm zu beschreiben, den Beethovens Fünfte Sinfonie in ihm entfachte. Wem der Mut zum Abgrund fehlt, wer nicht bereit ist, sich wie die Romantiker dem »Unaussprechlichen hinzugeben«, kann sich vor dieser Musik nur fürchten.
In keinem anderen Land der Welt haben sich die Philosophen so damit herumgequält, Musik als paradoxe Sprache ohne Worte zu erklären wie in Deutschland. Für Immanuel Kant, der eine heilige Scheu vor den Abgründen des Lebens pflegte, war die Angelegenheit noch einfach: Musik war die »Sprache der Affekten« - und als solche nicht viel wert. »Mehr Genuss als Kultur« sei sie, weil sie, anders als die Poesie, nichts »zum Nachdenken übrig bleiben« lasse. Die romantische Behauptung, dass man in der Musik »Gedanken ohne jenen mühsamen Umweg der Worte« denke, hätte der Rationalist aus Königsberg als krausen Unfug abgetan. Mit der »reinen« Instrumentalmusik konnte sich der Verfechter der »reinen« Vernunft schon gar nicht anfreunden: In seiner Ästhetik nahm sie den untersten Rang ein, angesiedelt irgendwo zwischen »Laubwerk […] auf Papiertapeten« und formenprächtigen »Schaltieren des Meeres«.
Deutlich ambitionierter (und kenntnisreicher) versuchte Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Tonkunst zu erklären. In seinem ästhetischen System nahm sie immerhin eine gehobene Position zwischen Architektur, Skulptur und Malerei als den untersten und den verschiedenen Gattungen der Literatur als den obersten Stufen ein. Zwar bestimmte auch er sie als »die Kunst des Gemüts, welche sich unmittelbar an das Gemüt selber wendet«, witterte in ihr ein »haltungsloses freies Verschweben« und die Gefahr, dass sich dort ein »ganz leeres Ich, das Selbst ohne weiteren Inhalt« bespiegele. Dennoch schätzte er an ihr, dass sie in ihren höchsten Ausprägungen, bei Bach etwa, die beiden Extreme »tiefste Innigkeit« und »strengsten Verstand« in sich vereinige. Musik war für Hegel die Kunstform, in der sich das Individuum zum ersten Mal in aller Tiefe selbst erkundete - was ihren Aufstieg parallel zum gesellschaftlichen Aufstieg des Individuums als selbstbewusstem Bürger erklärte. An der welthistorischen Aufgabe, dieses in sich befangene Individuum mit der allgemeinen »Substanz« der Geschichte, der Kultur, den Sitten des Volkes, dem es angehörte, zu versöhnen, musste die Musik Hegel zufolge allerdings scheitern. Aus dem Käfig der Innerlichkeit vermochte sie, zumal die reine Instrumentalmusik, nicht auszubrechen. Das kühne Vorhaben, »absolute Musik« zu komponieren und damit gleichzeitig nationale Mythen zu schaffen, nahm erst der dritte der deutschen Musiktitanen in Angriff.
TV.
»Der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste Weisheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht.«
Richard Wagner ist der Sündenfall und die Apotheose der deutschen Musik. Mit ihm verlor die Kunst jegliche Bescheidenheit. Die Herzen für Gott öffnen? Wie lächerlich! Für welchen denn - doch nicht etwa für den abgehalfterten Spießer mit dem weißen Bart, an dessen Existenz ohnehin nur noch hinterwäldlerische Kirchenmäuse glauben? Den Alltagserschöpften ein erquickendes Bad im kühlenden Quell der Töne gönnen? Pfui, wie philisterhaft! Die Menschheit bessern? Welch müßiges Ziel! Der Mensch will nicht gebessert - er will erlöst werden! Willkommen im Reich der totalen Kunst!
Erlösung ist das Leitmotiv, das Wagners gesamtes Werk beherrscht, auf allen Ebenen. Der politische Pamphletist und Revolutionär, der im Mai 1849 in Dresden auf die Barrikaden ging, kämpfte dafür, das kleinstaatlich zerstückelte Deutschland von allen feudalen, kirchlichen und kapitalistischen Unterdrückern zu erlösen. Ein Jahr später, im Züricher Exil, in das der »Königlich Sächsische Hofkapellmeister« nach seinen Revoluzzer-Umtrieben hatte fliehen müssen, verfasste er eine Tirade, die klang, als hätten Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Friedrich Engels mehrere Gläser Met zu viel gehoben: »Nicht unsere klimatische Natur hat die übermütig kräftigen Völker des Nordens, die einst die römische Welt zertrümmerten, zu knechtischen, stumpfsinnigen, blödblickenden, schwachnervigen, hässlichen und unsauberen Menschenkrüppeln herab gebracht, - nicht sie hat aus den uns unerkennbaren, frohen, tatenlustigen, selbstvertrauenden Heldengeschlechtern unsere hypochondrischen, feigen und kriechenden Staatsbürgerschaften gemacht, -
Weitere Kostenlose Bücher