Die deutsche Seele
Seine Kritik, die er 1517 in Wittenberg in den 95 Thesen formulierte, sollte mit ihrer Wortgewalt die römische Kirche spalten. Das hätte keine Truppe vermocht und keine Waffe geschafft.
Die Bibelübersetzung und der Konflikt mit der Papstkirche haben den Deutschen die Tür zur Nation in eigener Regie geöffnet. Luther ist ein scharfer Kritiker des päpstlich patronierten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Einer der schärfsten. Er hält die Idee, das römische Staatswesen an die Deutschen zu geben, für einen Papsttrick. Luther sagt: »Also sind wir Deutsche hübsch deutsch gelehrt: da wir vermeinten Herren zu werden, sind wir der allerlistigsten Tyrannen Knechte worden, haben den Namen, Titel und Wappen des Kaisertums, aber den Schatz, Gewalt, Recht und Freiheit desselben hat der Papst; so frisst der Papst den Kern, so spielen wir mit den ledigen Schalen.« Er geht so weit zu sagen, dass wir Deutsche missbraucht wurden im Kampf Roms gegen den, wie er es formuliert, »rechten römischen Kaiser zu Konstantinopel«. Ein Plädoyer für die Orthodoxie? Von Luther?
Entscheidend für den Weg einer Nation in die Geschichte ist ihr Gründungsmythos. Zu ihm wird sie immer wieder zurückkehren.
Im Zentrum jedes europäischen Gründungsmythos steht der Begriff der Nationsfreiheit. Die große Debatte um die Freiheit in Deutschland aber war der Disput um die Religionsfreiheit. Er wird im Augsburger Religionsfrieden von 1555 zum Rechtsfaktum erhoben. Beschlossen wird in einem recht verworrenen Vertragstext die Koexistenz der Konfessionen im Reich, aber nicht innerhalb seiner Teilstaaten. Damit kündigt sich eine Besonderheit der deutschen Staatsidee an. Es ging nicht um das Einheitsprinzip, es galt vielmehr, die Unterschiede zu verwalten. Das berühmte »Cuius regio, eius religio« - »wessen Herrschaft, dessen Religion« - war nichts als ein Ordnungsinstrument, und was für den Augenblick ein Modus vivendi sein konnte, wird sich auf längere Sicht als Selbstblockade erweisen. Wenn der Sieger nicht feststeht, bleibt auch die Ordnung ungefestigt. Dieses Ungefestigtsein ist aber auch die Voraussetzung für das erste Reich, das es immerhin auf eine Dauer von einem Jahrtausend gebracht hat.
Luther ist Theologe, politischer Theologe. Seine Thesen waren Teil eines theologischen Disputs mit politischem Ausgang.
Die deutsche Bibel, die er 1534 herausbringt, wird dem Volk zugänglich sein, sie gibt aber auch der Volkssprache eine Kompetenz. Das weiß er. Weit mehr als vierhundert Sprichwörter hat er gesammelt, um der Volksweisheit gerecht zu werden. Er bedient sich aus diesem Schatz. Bis zu den Romantikern wird ihm das keiner nachmachen.
Luthers Deutsch ist derb. »Er hat sich von der Weisheit beschissen«, heißt es da, und: »Vogel singt, wie der Schnabel gewachsen.« Die Derbheit ließ das Deutsche angesichts des dekadenten Lateins lebendig und zukünftig erscheinen.
Luthers Schattenkabinett: Freunde, Mitstreiter, Berater: Johannes Forster, Georg Spalatin, Martin Luther selbst, Johannes Bugenhagen, Erasmus von Rotterdam, Justus Jonas, Caspar Creuziger und Philipp Melanchthon (v. l.n.r.). Von Lucas Cranach d.J. gemalt.
Luther hatte zahlreiche Helfer, Berater und Unterstützer. Es gab einen engen Mitarbeiterstab, eine Art Kabinett, und einen weiteren, größeren Kreis von Gleichgesinnten, über deren Möglichkeiten und Mittel Luther verfügen konnte. Zu seinem Kabinett gehörten: Philipp Melanchthon, einer der großen Humanisten, bekannt auch als »Lehrer der Deutschen«. Melanchthon sah die Bibelübersetzung durch. Der Theologe Justus Jonas begleitete Luther zum Reichstag nach Worms. Johannes Bugenhagen, ebenfalls ein Theologe und Luthers »Beichtvater«, stammte aus Pommern und wurde auch als Reformator des Nordens betrachtet. Außerdem: Katharina von Bora, Ex-Nonne und seit 1525 Luthers Frau. Der Landesfürst Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen, der seine schützende Hand über Luther hielt, und dessen Geheimsekretär Georg Spalatin. Auch einer der großen deutschen Maler war dabei: Lucas Cranach d.Ä. Er sorgte für die Porträtierung und Ikonisierung der Gruppe.
Zu den Anhängern Luthers gehörte auch Ulrich von Hutten. Er war ein einflussreicher Publizist der Zeit, aus dem Adel kommend und vom Humanismus geprägt, ein Romhasser, einer der frühen deutschen Nationalisten und ein unabhängiger Geist. Sein Wahlspruch: »Ich hab’s gewagt«, aus einem Flugblattlied, wurde zu einem Schlagwort der
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