Die deutsche Seele
»Querulant« war spätestens in den sechziger Jahren nicht mehr tragbar. Er war, wie man damals ohne viel Aufhebens sagte, »out«.
An seiner Stelle stieg mit der zunehmenden Politisierung der Öffentlichkeit ein neuer Stern am Begriffshimmel auf. Es war der »Querdenker«. Der Begriff kam aus der Wissenschaft und meinte dort den Transfer eines Wissensmodells in ein anderes Wissensgebiet. Das Management-Lexikon bezeichnet als Qu. jemanden, der eigenständig, originell und unkonventionell denkt, quer zur Normdenkweise. Auch im Kreuzworträtsel-Unwesen geht es ums Um-die-Ecke-Denken. Angeblich trainiert das Lösen dieser Rätsel das Querdenken als Methode.
Als Qu. werden die unterschiedlichsten Personen genannt: der Wiener Salonkommunist und Bildhauer Alfred Hrdlicka, der CDU-Partei-Reformer Kurt Biedenkopf, der Münchener Kabarettist Karl Valentin und der Frühscholastiker Pierre Abaelard, der Mann, der in der Weltliteratur die Affäre mit Heloise hat. Qu. hieß in der allgemeinen Öffentlichkeit jemand, der sich der politischen Lagertreue nicht verpflichtet fühlte, ohne aber ein Rebell sein zu wollen. Jemand, der neue Gedanken ermöglichen wollte, indem er die Lagerrhetorik durchbrach, einer, der mit Absicht die Figuren ins falsche Feld stellte. Und weil es die Figuren der anderen waren, konnte er auch mit einer umgehenden Reaktion rechnen.
Der Qu. war letzten Endes auch ein Versuch, die Erkenntnisse von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann zum kommunikativen Handeln und zu den sozialen Systemen sanft zu korrigieren. Was der Qu. im Falle des Gelingens erreichen konnte, war sozusagen die politische Familienaufstellung.
Das Querdenken erwies sich bald als Erfolgsrolle, es hatte das Denken jenseits der Klischees kenntlich zu machen und bekam dafür regelrecht Aufträge aus Politik und Philosophie. Es gab eine Zeit, in der seine Rolle hoch im Kurs stand. Es war die Zeit der kritischen Intellektuellen in den siebziger Jahren, eine Zeit des »Hinterfragens« und der »Infragestellung«. Der Qu. verfügte plötzlich über Macht. Er verunsicherte damit die Bürger, aber auch das eingeübte Gesellschaftsspiel der Diskurse. Es war die Zeit eines Sebastian Haffner, der sich plötzlich als »Wechselwähler« bezeichnete und trotzdem ungestraft davonkam.
Mit solchen Statements rüttelte man, gewollt oder ungewollt, und selbst wenn man sie nur als Markenzeichen zum Einsatz brachte, an den Grundfesten des Lagerdenkens.
Dass es den Qu. heute nicht mehr allzu oft gibt, hat nicht zuletzt mit der Angst zu tun, er könnte doch noch, wenn auch unabsichtlich, an den Grundlagen rühren, an die man zwar nicht mehr glaubt, die man aber auch nicht weiter in Frage gestellt sehen möchte.
Wer sich nicht an dieses Stillhalteabkommen hält, wird zum Spielverderber. Aber auch diese Rolle ist vorgesehen. Manch einer erfüllt sie gekonnt. »Seien wir mal ehrlich«, heißt es gelegentlich sogar im Presseclub am Sonntagmittag im Ersten.
Seien wir mal ehrlich. Ist es nicht einfacher, Antworten zu geben als Fragen zu stellen? Vielleicht ist das der wahre Grund für das immer öfter festzustellende Ausbleiben des Qu.s.
>Forschungsreise, Kulturnation, Musik, Reformation
Rabenmutter
Es war einmal eine Königin, die hatte ein Töchterchen, das war noch klein und musste noch auf dem Arm getragen werden. Zu einer Zeit war das Kind unartig, und die Mutter mochte sagen, was sie wollte, es hielt nicht Ruhe. Da ward sie ungeduldig, und weil die Rahen so um das Schloss herumflogen, öffnete sie das Fenster und sagte: »Ich wollte, du wärst eine Rabe und flögst fort, so hätt’ ich Ruhe.« Kaum hatte sie das Wort gesagt, so war das Kind in eine Rabe verwandelt und flog von ihrem Arm zum Fenster hinaus.
Ach, Königin! So schnell kann’s gehen. Eben noch warst du das Sinnbild holder Mutterschaft, du selbst trugst dein Kindlein auf dem Arm, keiner Amme überließest du es, und dann ein unbedachtes Wort - schon bist du eine Rabenmutter.
Ich könnte dir Geschichten erzählen aus meiner märchenarmen Zeit, die es den Müttern gleichfalls nicht verzeihen mag, wenn diese ihre Kinder nicht Tag und Nacht bei sich tragen, sondern es wagen, sie »abzugeben«, nicht etwa im finsteren Wald - auch wenn es lichte Krippen, Kindergärten, Kinderläden, Kindertagesstätten sind, in die sie ihre Kleinen bringen, schwebt über ihnen stets die Angst, nur eine »Rabenmutter« zu sein. Wenn sie ihrem Kind den Kuchen nicht selbst backen und ihm deshalb Gekauftes
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