Die deutsche Seele
freimütig: Ich bin ein Nebler und Schwebler, will es sein. Ich schreibe, damit die Leute wieder lernen, verfließende Schattengebilde für wahre Gestalten zu nehmen, mit Leben und Regung.«
»In der Kunst sollen Sie das unbenommen machen. Aber nicht in der Wirklichkeit!«
»Noch so eine Trennung. Glauben Sie, ich hätte auch nur eine einzige Erzählung schreiben können, wenn ich die Kunst von der Wirklichkeit getrennt hätte?«
Der Besucher richtete sich auf. »Es tut mir leid, Herr Doktor, dass ich Ihre nächtliche Ruhe gestört habe. Bei aller Skepsis hat es mich dennoch gefreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Und für diese Zigarre gebührt Ihnen mein ewiger Dank.«
Mit diesem Satz erhob sich der Fremde von der Couch, machte eine angedeutete Verbeugung und verließ das Behandlungszimmer so lautlos, wie er es betreten hatte.
Dr. F. vermochte nicht zu sagen, wie lange er auf seinem Stuhl verharrt hatte. Als er wieder zu sich kam, war die Zigarre in seiner Hand erloschen. Auf dem Teppich lagen kleine Aschekegel. War er eingeschlafen? Hatte er geträumt? Er starrte auf die Couch, die leer vor ihm stand. Der Stuhl fiel um, als er sich endlich erhob. Sein Hals brannte, sein Rücken schmerzte.
»Verrückt«, hörte er sich selbst sagen. Er ertappte sich dabei, wie er die Couch nach Spuren des nächtlichen Spuks absuchte, doch da war nichts. Hätte er wenigstens die Zigarren in seiner Schachtel zuvor abgezählt, könnte er jetzt sagen, ob eine fehlte. Aber in dieser Nacht war so viel geraucht worden, dass er den Überblick verloren hatte.
Ich muss weniger arbeiten, dachte er, als er zurück an seinen Schreibtisch ging, um sich sogleich einige Notizen über das sonderbare Erlebnis zu machen. Auf dem kleinen Beistelltischchen, das rechts von seinem Schreibtisch stand, lag neben den beiden Terrakottafiguren ein Buch, es war aufgeschlagen. Dr. F. konnte sich nicht erinnern, es dorthin gelegt zu haben. Noch bevor er es in die Hand nahm, erkannte er, dass es die Nachtstücke waren. Er hatte seinen Aufsatz über Das Unheimliche vor Monaten beendet, ohne Zweifel hatte er das Buch längst ins Regal zurückgestellt. Jemand hatte etwas auf die erste Seite gekritzelt. Eine Widmung.
Das Unheimliche ist das Wirkliche, Für Dr. F.
in vorzüglicher Hochachtung E. T.A. Hoffmann
Dr. F. hob den Blick gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ihm die kleine Sphinx auf der Vitrine zuzwinkerte.
>Abgrund, German Angst, Puppenhaus, Waldeinsamkeit, das Weib
Vater Rhein
Wie kommt ein Fluss dazu, Vater zu werden? Nicht so sehr, indem er ungezügelter Zeugungslust frönt - auch wenn es nicht schadet, dass ihm ein paar Nixen und Nymphen nachgesagt werden. Wichtiger ist, dass verunsicherte Menschenkinder beschließen: Wir brauchen einen Vater. Einen gütigen. Einen starken. Einen, der uns hilft.
Für die vorchristlichen Römer, die die Rheingegend als Erste systematisch besiedelten, war es normal, Flüsse und die Götter, die sie darin vermuteten, als »Pater« anzurufen, wann immer sie sich in einer heiklen Situation vor Flusslandschaft befanden. Auch im Tiber sahen sie einen Vater - oder in der Donau, die damals noch ein männlicher »Danuvius« war. Aber kein Römer käme heute mehr auf die Idee, dem »Padre Tevere« ein Liedchen zu singen. Und die Donau hat ihren Vatertitel spätestens bei der Geschlechtsumwandlung eingebüßt - zur »Mutter Donau« wurde sie allenfalls in dem einen oder anderen slawischen Lied. Für Deutsche und Österreicher ist sie einfach schön und blau.
Warum hat es ausgerechnet der Rhein geschafft, über all die Jahrhunderte Vater zu bleiben?
Schon immer war er nicht irgendein Gewässer, sondern ein besonderer Strom. Caesar soll ihn zweimal überschritten haben. Allerdings nur um zu beschließen, dass das Wald-, Sumpf- und Stammeschaos jenseits des Rheins, das eigentliche Germanien, keine ernsthafte kolonisatorische Mühe wert sei. Erst Kaiser Augustus befahl die Expansion gen Nordosten, oder wie das Volkslied lästert: »Als die Römer frech geworden, / Simserim simsim simsim / Zogen sie nach Deutschlands Norden, / Simserim simsim simsim …«
Im Jahre neun nach Christi Geburt erlebte der neue Befehlshaber am Rhein, Publius Quinctilius Varus, im Teutoburger Wald sein Waterloo: Der Cheruskerfürst Arminius, besser bekannt als »Hermann«, zwang die Römer zum zeitweisen Rückzug hinter den Rhein - ohne im Gegenzug selbst nach Gallien vorzudringen.
Es sollte noch ein halbes Jahrtausend
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