Die deutsche Seele
vorläufig letzten Höhepunkt fand der rheinische Weinreim in jenem Schlager, der in den 1960er Jahren den gesamten Karneval zum Schunkeln brachte: »Ich hab’ den Vater Rhein in seinem Bett geseh’n. / Ja, der hat’s wunderschön, der braucht nie aufzusteh’n. / Und rechts und links vom Bett da steht der beste Wein, / Ach wäre ich doch nur der alte Vater Rhein.«
Zum touristischen Tollhaus wurde der Rhein nicht erst in der Gegenwart. Schon im 18. Jahrhundert zog es die Reisenden aus ganz Europa, vor allem aus England, zu ihm hin. Natürlich wollten sie die Kaiserdome sehen, den Drachenfels, die Pfalz, die mitten in den Rhein gebaut war, um Zölle zu kassieren, den Mäuseturm, in dem der garstige Mainzer Erzbischof Hatto verendet sein soll, die schaurig schönen Raubritterburgen und Ruinen, die so würdige Namen tragen wie »Stolzenfels« oder »Ehrenfels« und so lustige wie »Katz« oder »Maus«. (Nach der Loreley dürften jene Reisenden noch nicht Ausschau gehalten haben, sie kam erst im 19. Jahrhundert in Mode.) Aber ohne die weinbedingte Lebensund Sangesfröhlichkeit, zu der er auch steifere Gemüter inspiriert, wäre der Rhein nie zu der Goldgrube geworden, neben der alle Nibelungenschätze, die auf seinem Grund schlummern mögen, verblassen.
Als der Niedersachse und Dada-Dichter Kurt Schwitters im Sommer 1926 samt Eltern und Gattin den Rhein hinaufschipperte, wunderte auch er sich, dass es dort so viel munterer zuging als anderswo in deutschen Landen: »Wie es eine Gegend der Denker und Geistesheroen in Weimar gibt, so gibt es in Berlin eine Gegend der Börsianer, in Hamburg eine Gegend der Kaufleute und am Rhein eine Gegend der Sänger. Jeder singt dort, gleichgültig, ob er kann oder nicht. Man singt einzeln oder scharenweise. Wenn die Stimme nicht so schlecht ist, höre ich Einzelgesang noch lieber. Sonst ist für einen harmlosen Passanten, der nur Natur genießen will, das Singen bedeutend störender als der Geist in Weimar, die Börse in Berlin oder der Handel in Hamburg, weil es so laut ist.«
Subtile Geister ahnten natürlich schon vorher, dass solch überschäumend vorgetragene Lebensfreude nur das Krönchen ist, das auf eigentlich dunklen Wassern tanzt.
»Freundlich grüßend und verheißend / Lockt hinab des Stromes Pracht; / Doch ich kenn’ ihn, oben gleißend, / Birgt sein Inn’res Tod und Nacht.« So fasste es der Düsseldorfer Heinrich Heine zusammen - »des freien Rheins noch weit freierer Sohn«, als welchen er sich selbst bezeichnete. Die Gefährlichkeit des Rheins lag natürlich in erster Linie darin, dass er allen Bändigungsmaßnahmen zum Trotz ein mächtiger, durchaus launischer Strom blieb. Das »Binger Loch«, ein dramatischer Strudel unweit des düsteren »Mäuseturms«, brachte zahlreiche Schiffe zum Sinken, bis ins 20. Jahrhundert hinein. Zur berühmtesten Gefahr für alle Vorbeifahrenden wurde jedoch ein ebenso schönes wie unglückliches blondes Fräulein, dessen Sitz auf dem hohen Felsen gegenüber von St. Goar vermutet wurde.
Ob die Loreley ein ursprünglich irdisches oder ein durch und durch verhextes Zauberweib gewesen sein mag - darüber gingen die Ansichten früh auseinander. In seiner ersten Annäherung an die Hinreißende ließ der Dichter Clemens Brentano sie zunächst als »Lore Lay« aus Bacharach auftreten. Ihren magischen Reiz, dem die stolzesten Männer erlagen, verdankte sie dem traurigen Umstand, dass zuvor ein Schnöder ihr das Herz gebrochen hatte. Wandelnde Männerfalle zu sein, bot der Armen keine Genugtuung (der Feminismus war noch nicht erfunden), lieber wollte sie im Rhein sterben. Damit machte sie das Unheil allerdings nur noch größer. Denn jetzt war sie dazu verdammt, als sagenhafte »Lureley« der halben Welt den Kopf zu verdrehen. Aber wer weiß: Vielleicht hätte sie ihren Frieden auf dem Grund des Rheins gefunden, hätte Heinrich Heine nicht seine bezaubernden Verse geschrieben, und hätte Friedrich Sucher diese nicht so anrührend schlicht vertont, dass heute sogar japanische Schulkinder singen: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / Dass ich so traurig bin; / Ein Märchen aus alten Zeiten, / Das kommt mir nicht aus dem Sinn …«
»Lore Lay« war nicht die Einzige, die ihrem irdischen Leben am bzw. im Rhein ein Ende setzte. Jahre bevor der Kult um die blonde Zauberin begann, erstach sich die (dunkelhaarige) Schriftstellerin Karoline von Günderrode an seinem Ufer. Ihre Geschichte ist nicht weniger traurig als die ihrer berühmten
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