Die deutsche Seele
Feuer knistert im Kamin, der Punsch dampft, und draußen pfeift der Herbststurm. Aber weiß ich wirklich, was ich tue, wenn mir so heimelig zu Mute ist? Sind’s nicht Heimlichkeiten, die ich treibe? Die mich umtreiben? Und mit einem Mal stehe ich ganz fremd vor mir, bin mir selbst unheimlich. Ist es nun gut, wenn meine Heimlichkeiten ans Licht gezerrt werden? Stehe ich dann nicht noch fremder vor mir, als wenn ich sie im Dunkeln gelassen hätte? Ich bin zu Hause in meinen Unheimlichkeiten. Sie, Herr Doktor, Sie wollen alles entheimlichen. Sie können nicht hausen im Unheimlichen und gewinnen doch keine Heimat dabei.«
Dr. F. hatte mit wachsender Spannung zugehört. »Sie haben meinen Aufsatz über das Unheimliche gelesen?«
»Oh ja. Ich lese alles, was über mich geschrieben wird.«
»Warum glauben Sie, dass ich über Sie geschrieben habe?«
»Schon wieder so eine Frage. Ich glaube es, weil Sie es getan haben. Sie hatten sogar die Güte, mich zum unerreichten Meister des Unheimlichen zu küren.« Der nächtliche Besucher verschluckte sich kichernd am Rauch.
»Sie glauben also, der Dichter E.T. A. Hoffmann zu sein?«
Jetzt seufzte der Gast. »Herr Doktor, so kommen wir nicht weiter. Ich muss Ihnen gestehen, Ihr Aufsatz hat mich nicht nur erfreut. Je weiter ich vordrang in der Lektüre, desto mehr hat er mich verstimmt. Sie schreiben dort über meinen Sandmann. Wie Sie ahnen, liebe ich meine Erzählung. Deshalb hat es mich geschmerzt, lesen zu müssen, dass mein armer Nathanael unter - wie haben Sie es genannt? - Kastrationsangst litte. Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass der Unglückliche den finsteren Coppelius, der ihm die Augen rauben will, nicht zu Recht fürchtet? Und dass die Augen in Wahrheit gar nicht die Augen, sondern ein anderes Organ vorstellen sollen? Und dass Nathanael in Wahrheit auch nicht Coppelius fürchte, sondern seinen eigenen Vater?«
Vor Aufregung vergaß Dr. F., an seiner Zigarre zu ziehen. »Alles in Ihrer Geschichte erzählt davon, wie sehr Nathanael auf seinen Vater fixiert ist. Der frühe Tod, an dem er sich mitschuldig fühlt. Ihr Coppelius ist ein durch und durch klassisches Vater-Imago. Warum tritt er immer dann auf, wenn Nathanael kurz davorsteht, sein erotisches Glück zu finden?«
»Haben Sie eben in Ihrer Geschichte gesagt? Sie glauben jetzt also, dass ich E.T. A. Hoffmann bin?«
»Das tut im Augenblick nichts zur Sache.«
»Oh doch. Das ist die ganze Sache. Wenn Sie es plötzlich für möglich halten, dass ich der Dichter Ernst Theodor Amadeus Hoffmann bin, gestorben am 25. Juni 1822, und dass ich dennoch hier, am 20. November 1919, auf Ihrem Diwan liege, mit Ihnen Zigarre rauche und über das Unheimliche plaudere, dann müssen Sie sich auch damit abfinden, dass mein Nathanael sich den Dämon Coppelius nicht einbildet und dass seine Augenangst auch für keine andere Angst steht, sondern dass Coppelius und niemand anderer als Coppelius wirklich die dunkle Macht war, die den Unglücklichen verfolgte.«
Dr. F. verspürte einen Schwindel. Wollte er sich auf eine Stufe mit dem Eindringling begeben, müsste er wohl sagen: Eine schwarze Faust griff nach seinem Leben. Oder steckte doch nur einer seiner Feinde hinter diesem Schabernack?
Wer war abgeschmackt genug, ihm einen zerlumpten Schauspieler ins Haus zu schicken, um zu sehen, ob er sich aufs Glatteis führen ließ?
»Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Ich kann Ihnen heute nicht helfen.«
»Ich fürchte, Sie könnten mir auch morgen nicht helfen, Herr Doktor. Und übermorgen auch nicht. Sie werfen Ihren Gegnern vor, einer rationalistischen Denkweise anzuhängen, wenn sie es ablehnen, Ihnen auf Ihrem psychoanalytischen Weg zu folgen. Ich wäre sogleich bereit, Ihnen auf jedem Weg in die Tiefe zu folgen. Aber leiden nicht auch Sie an einem kalten, prosaischen Gemüt, wenn Sie statuieren, dass kein Dämon eine wirkliche Existenz hat, sondern nur ein Phantom des Innern ist? Wenn Sie meinen, jeden Strahl des Geheimnisvollen mit einer Herkunft aus dunkler Kindheit erklären zu können?«
»Das ist infantil!« Die Stimme von Dr. F. klang schriller, als er beabsichtigt hatte. »Wie jeder Neurotiker überbetonen Sie die psychische Realität im Vergleich zur materiellen. Sie regredieren in Zeiten, da sich Ihr Ich noch nicht scharf von der Außenwelt abgegrenzt hatte.«
»Und das wollen Sie mir beibringen? Mein Ich scharf von der Außenwelt abzugrenzen? Aber das ist doch das ganze Elend, unter dem wir leiden. Ich gestehe es
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