Die deutsche Seele
realisiertes) Projekt eine Verfilmung der Kleistschen Penthesilea mit sich selbst in der Hauptrolle gewesen war. Am 6. November 1936, während die Regisseurin mit ihren beiden Olympia-Filmen im Schneideraum saß, notierte der Propagandaminister: »Frl. Riefenstahl macht mir ihre Hysterien vor. Mit diesen wilden Frauen ist nicht zu arbeiten.« Ein gutes Jahr später, nachdem er erste Ausschnitte aus den fertigen Filmen gesehen hatte, schwärmte er: »Unbeschreiblich gut. Hinreißend photographiert und dargestellt. Eine ganz große Leistung. In einzelnen Teilen tief ergreifend. Die Leni kann schon sehr viel. Ich bin begeistert.«
Riefenstahl, Reitsch, Beinhorn und wie sie alle hießen, waren Extremistinnen. Keine politischen - an dieser Front waren sie scheuklappige Gefolgsfrauen, die nur sahen, was sie sehen wollten -, aber sie brannten für ihre Kunst, den Sport, die Technik, das Abenteuer. Und solange sie den Machthabern genügend Hingabe signalisierten, solange sie bereit waren, nicht sich selbst, aber ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten dem Vaterland zu unterwerfen, ließ man sie gewähren. So konnten in der aggressivsten Phase deutschen Nationalgefühls selbst Weiber zu »Heldinnen« werden.
Die Bundesrepublik hat es sich zur Tugend gemacht, sowohl dem Nationalgefühl als auch jeglicher Form von Extremismus zu misstrauen. In diesem Sinne ist Bundeskanzlerin Angela Merkel eine vorbildliche Bundesrepublikanerin. Eine Amazone ist sie nicht, auch wenn sie es im Laufe ihrer Karriere geschafft hat, jeden mächtigen Mann in ihrer Partei kaltzustellen. Eher können wir in ihr eine radikale Neudefinition Germanias sehen: Nicht aufs Schwert, sondern auf die jüngsten Umfrageergebnisse der Meinungsforschungsinstitute gestützt, sorgt sie dafür, dass im deutschen Sandkasten endgültig Ruhe herrscht.
>Abgrund, Bergfilm, Dauerwelle, Fahrvergnügen, Kindergarten, Mutterkreuz, Mystik, Rabenmutter, Reinheitsgebot, das Unheimliche, Vater Rhein
Weihnachtsmarkt
Es ist Advent! Es duften die Lebkuchenherzen! Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit. Schon leuchten die Herrnhuter Sterne. Sie schmücken in der Oberlausitz in der Advents- und Weihnachtszeit Wohnungen, Gemeindesäle, Kirchen und Kindergärten. Aufgrund eines alten Brauchs werden die Sterne im Familien- oder Freundeskreis zusammengebaut, um am ersten Adventssonntag aufgehängt zu werden. Jetzt, wenn die Städte tausend Lichter haben.
Eigentlich sollte es an Weihnachten um Jesus Christus gehen, um das Christkind, um seine Geburt in Bethlehem. Davon zeugen die Weihnachtsbräuche in anderen Ländern und die dort öffentlich aufgestellten Krippen mit kunstvollen Krippenfiguren an Bahnhöfen, in Kaufhäusern, in den Passagen.
In Deutschland ist es anders, sagst du, als hättest du einen Gedanken laut ausgesprochen. Hier ist es nicht die Krippe, um die es geht. Hier steht das mehr oder weniger ausgewachsene Symbol der Winterzeit - die Tanne - im Zentrum des Festes. Und das ist heidnisch. Von den Mythen bleiben die Bräuche. Und diese sind stumm. Jesus kannte weder Tannen noch Schnee. Der Baum kann überwältigend sein oder unscheinbar, je nach Lust und Laune der Käufer und der Dicke der Brieftasche, die sie bei sich tragen. Der Baum steht im Wohnzimmer und vor dem Rathaus.
Auf dem Rathausplatz schweben wir an den Marktständen vorbei. Von einer Vanillezone zur anderen, von einer Zimtgrenze zur nächsten. Die Weihnachtslieder ertönen von einem unsichtbaren Band. Aus Himmelsboxen. »Das Wort will Fleisch uns werden«, so der Chor, »der Sohn ist uns gesandt.« Kennt das heute noch jemand? Gibt es jemand, der es vielleicht sogar singen könnte?
Wir haben alles nur noch im Ohr. Die gesamte Tradition ist ein Ohrwurm, ein ausgestöpselter und wieder eingestöpselter. Advent ist eingestöpselt. Budenzauber ist angesagt. Der Weihnachtsmarkt steht im Zeichen des Glühweins. Weihnachtsmarkttage sind kalte Tage. Es sind Handschuhtage. Außerdem kann man den Handwerkern über die Schulter schauen oder um die Bratäpfel schleichen. Bis man einen davon dann doch in der Hand hält und am liebsten sagen würde, man wisse nicht, wie es dazu gekommen sei.
Man begibt sich nicht auf den Weihnachtsmarkt, um etwas zu kaufen, jedenfalls nichts Bestimmtes. Der Weihnachtsmarkt ist ein Naschmarkt. Es ist der Ort der Nüsse, der Mandeln und Maronen.
Und trotzdem nimmt man auch was mit. Der Weihnachtsmarkt ist älter als der Kapitalismus, den Markt
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