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Die Deutschen

Die Deutschen

Titel: Die Deutschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Artur Müller
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Juni auf dem Straußberger Platz zu versammeln. Dieser Aufruf verbreitete sich in den nächsten Stunden wie ein Lauffeuer durch Ostberlin.
    Außer in Ost-Berlin kam es am 17. Juni auch an mehr als 250 Orten in der ddr zu Streiks und Demonstrationen, zu deren Zustandekommen auch Meldungen westlicher Rundfunkstationen nicht unwesentlich beitrugen. Die Schwerpunkte der Unruhen lagen im mitteldeutschen Industriegebiet und im Magdeburger Revier. Am Streik beteiligten sich 300000, nach westlicher Schätzung 372000 Arbeiter, insgesamt etwa 6 Prozent der gesamten Arbeiterschaft der ddr .
    Die Demonstrierenden und Streikenden übernahmen die Parolen der Berliner Bauarbeiter vom 16. Juni. Sie lauteten:
    1. Auszahlung der Löhne bei der nächsten Lohnzahlung bereits wieder nach den alten Normen;
    2. sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten;
    3. freie und geheime Wahlen;
    4. keine Maßregelung von Streikenden und Streiksprechern.
    In Berlin marschierten die Betriebsbelegschaften am 17. Juni von den Außenbezirken ins Stadtinnere. In vielen Fällen rissen sie auf ihrem Weg die Bilder der Parteiführer und politische Spruchbänder herunter und demolierten Propagandakioske. Von diesen spontanen Akten abgesehen, kam es nicht zu Plünderungen und Ausschreitungen. Das Rathaus und verschiedene Dienststellen wurden besetzt. Vor den Gefängnissen und Zuchthäusern marschierten einzelne Werksbelegschaften auf und verlangten die Freilassung von Kameraden, die ihnen namentlich bekannt waren, in anderen Fällen verlangten sie auch die Entlassung aller politischen Häftlinge. Soweit die Demonstranten in Gefängnisse eindringen konnten, wurden die Befreiungen im Einvernehmen mit dem Gefängnispersonal durchgeführt.
    Schließlich kam es zu Großkundgebungen, mit denen diese Demonstrationen ihren Höhepunkt fanden. Der größte Teil der Betriebsbelegschaften kehrte diszipliniert wieder in die Betriebe zurück. Gegen Mittag änderte sich die Situation in Berlin völlig. Es kam zu Plünderungen, Brandstiftungen und zu Akten der Lynchjustiz. Anhänger des Regimes, durch Abzeichen kenntlich, wurden verprügelt. Demonstrierende Massen drangen in die Gefängnisse ein und öffneten, im Gegensatz zur vormittäglichen Praxis, wahllos die Zellen. An diesen nachmittäglichen Demonstrationen waren sehr viele Frauen und Jugendliche beteiligt, aber auch Schaulustige aus West-Berlin. Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand, aber die Polizei- und Parteikräfte blieben machtlos. Die sowjetischen Truppen gingen meist erst mehrere Stunden nach Verkündigung des Ausnahmezustandes gegen die Demonstranten vor. Die rote Fahne, die 1945 auf dem Brandenburger Tor gehißt worden war, wurde von einigen Jugendlichen heruntergeholt, obwohl drei russische Kompanien auf der Ostseite des Tores stationiert waren. Die Soldaten schossen in die Luft. Während der Streiks und Demonstrationen wurden insgesamt 21 Personen getötet.
    Die Zahl der Streikenden und Demonstranten, die verhaftet und verurteilt wurden, hat die ddr nie bekanntgegeben. Im Westen sind mehr als 1300 Verurteilte registriert worden, davon sieben zum Tode und acht zu lebenslänglichem Zuchthaus. Damit waren in der ddr »Ruhe und Ordnung« wiederhergestellt.
    Als die Bundesrepublik am 23. Oktober 1954 in Paris die Verträge über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft unterschrieb, antwortete die ddr mit der Drosselung des Reiseverkehrs, dem Verbot der Einreise von Westberlinern in die ddr und der Erklärung, daß die Zonengrenze ab sofort Staatsgrenze sei.
    Innerhalb der ddr verschärfte sich der politische Druck, und Tausende wurden wegen »politischer Unzuverlässigkeit« gemaßregelt oder wegen »politischen Widerstandes« verhaftet und als »Agenten, Diversanten, Spione und Saboteure« verurteilt.
    Die politische Unterdrückung und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die eine Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerung verhinderten, gaben der Fluchtbewegung von Bewohnern der ddr nach Westdeutschland mächtigen Auftrieb. Von September 1949 bis Ende 1952 wurden 675000 Flüchtlinge gezählt. Bis Juli 1961 stieg die Zahl der Flüchtlinge aus der ddr auf 2,6 Millionen, worunter sich viele qualifizierte Arbeitskräfte befanden. Man schätzt den finanziellen Schaden, der der ddr durch diese Fluchtbewegung entstanden ist, auf 80–100 Milliarden DM.
    In der Bundesrepublik hatte der Bundestag am 26. Februar 1954 mit 334 gegen 144 Stimmen der spd das »Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes« gebilligt

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