Die Diagnose: Thriller (German Edition)
hatte. Mein Leben verbrachte ich damit, die Menschen aus den psychologischen Fallen zu befreien, in die sie gestürzt waren, doch sie hatte mich in die älteste Falle von allen gelockt.
»Als wir uns zum ersten Mal begegnet sind«, sagte ich, »wussten Sie da schon, was Sie tun würden? Ich habe Ihnen jedes Wort geglaubt.«
Nora lächelte matt, doch der leere Ausdruck in ihren Augen wich nicht.
»Ich habe Sie nicht angelogen. Ich habe ihn an diesem Nachmittag mit der Waffe gefunden. Da drin.« Sie zeigte auf die Wand, hinter der Harrys Arbeitszimmer lag. »Er wirkte so gehetzt, als hätte er alles verloren. Ich hatte Angst um ihn und nahm ihn in die Arme, und da brach er zusammen und erzählte mir von dieser Frau .«
Das letzte Wort sprach sie voller Abscheu aus, und dann hielt sie ein paar Sekunden inne, um die Erinnerung noch einmal hervorzuholen. Dann sprach sie mit leiser, ruhiger Stimme und ausdruckslosem Blick weiter. Das Reden war, wie mir aufging, eine Art Therapie, und ich versuchte sie zu ermutigen, indem ich wenig sagte und die Waffe gar nicht beachtete. Es lag eine gewisse Wiedergutmachung darin, meine Fertigkeiten, die sie so missbraucht hatte, dazu einzusetzen, sie daran zu hindern, mich zu erschießen.
»Sie waren sicher verletzt«, warf ich ein.
»Verletzt?«, fuhr sie geringschätzig auf. » Sie war mir doch völlig egal. Sie dachte, sie würde ihn kennen, aber er hatte sie schon vergessen. Greene war derjenige, der ihn mir gestohlen hat. Harry wollte sich umbringen, aber abgedrückt hat Greene. Ich hatte Harry gerade noch rechtzeitig gefunden. Wenn nicht, hätte Marcus ihn erledigt.«
»Wann haben Sie beschlossen, was Sie tun wollten?«
»Nachdem Sie ihn ins Krankenhaus eingewiesen hatten. Sie hatten ihm seine Kleider weggenommen, und er saß im Rollstuhl. Er war entblößt und gedemütigt worden. Als er so von mir weggerollt wurde, kochte ein unglaublicher Zorn in mir hoch. Nicht Harry hatte es verdient zu sterben, dachte ich, sondern der Mann, der ihm das angetan hatte.«
Ich erinnerte mich an die Szene, wenngleich ich sie aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet hatte: im Flur der psychiatrischen Notaufnahme, Harry im Rollstuhl mit seiner Krankenakte auf dem Schoß; Pete O’Meara schob ihn schweigend zum Aufzug, und Nora blickte ihnen hinterher. Ich hatte geglaubt, sie würde nur traurig zusehen, voller Liebe für ihren kranken Mann, und hatte nicht geahnt, welche Phantasien in ihrem Kopf Gestalt annahmen.
Nora sah mich entschlossen und ruhig an. Sie war nicht − wie Harry es gewesen war − gefangen in Leidenschaft und Selbstmitleid, sie war durchaus eines Mordes fähig. Die Waffe fuhr durch die Luft, während sie sprach, pendelte sich jedoch wie magnetisch angezogen immer wieder auf mich ein.
»Vom Krankenhaus bin ich nach Hause gefahren und habe nachgedacht. Ich wusste, dass ich die Wahl hatte. Entweder überließ ich es Ihnen, und Sie würden ihm Pillen geben und mit ihm reden und ihn dazu bringen, die Niederlage einzugestehen, oder wir kämpften. Das war die einzige Möglichkeit, statt dieses Schattens von einem Menschen meinen Harry zurückzubekommen. Da ging mir auf, dass Sie ihm das perfekte Alibi geliefert hatten. Wenn wir uns beeilten, konnte er nicht des Mordes angeklagt werden.«
»Warum haben Sie ausgerechnet mich ausgesucht?« Ich erinnerte mich an den Augenblick, als ich am Montagmorgen ins Krankenhaus gekommen war und Jim Whitehead mir gesagt hatte, Harry weigere sich, sich von jemand anderem behandeln zu lassen. Jim war am Samstag im Episcopal gewesen, um nach Harry zu sehen, hatte er gesagt, doch die Shapiros hatten auf ihrer Privatsphäre bestanden. Jetzt wusste ich, warum.
»Sie waren nett in der Notaufnahme, und Sie waren jung. Whitehead war älter und hartnäckiger. Ich dachte, Sie wären … ich weiß nicht …«
»Leichter zu manipulieren?«, schlug ich vor.
»Oh, das klingt sehr unschön«, sagte sie, als spielte es noch eine Rolle, wie ich es formulierte. »Ich dachte einfach, Sie würden keine Fragen stellen. Und Sarah war so begierig darauf zu helfen.«
Das war sie auf alle Fälle , dachte ich. Im Nachhinein betrachtet, hatte Nora mich geschickt in einen Hinterhalt gelockt. Duncan und Harry hatten mich scheinbar gezwungen zu tun, was er wollte, doch eingefädelt hatte Nora die ganze Sache. Das Bild von ihr, wie sie in Harrys Zimmer auf York Ost auf dem Bett saß und wir über ihn diskutierten, stand mir wieder vor Augen – Mutter und
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