Die Diagnose: Thriller (German Edition)
gekommen war, doch jetzt lag die Sache anders. Nathan hatte mich draußen am Rollfeld wehrlos erwischt, doch jetzt brauchte ich etwas, um mich zu schützen. Ich beugte mich ins Wageninnere und öffnete das Handschuhfach, holte ein kleines Päckchen heraus und steckte es in die Tasche.
Die Küchentür gab nach, als ich dagegendrückte. Ich trat ein und sah, dass Noras Handtasche auf der Arbeitsfläche lag, die Tasche, aus der sie Harrys Waffe geholt hatte, als ich mit ihr im Wartezimmer der Notaufnahme gesessen hatte. Die Küche war aufgeräumt: Das Besteck war verstaut, die Teller gestapelt, der Staub von den Renovierungsarbeiten so gründlich von den Oberflächen der Küchenschränke gewischt, dass sicherlich nirgendwo Fingerabdrücke zu finden waren. Die Tür am hinteren Ende des Raums war nur angelehnt, und aus dem Wohnzimmer drang ein matter Lichtschein herein. Ich verharrte eine Sekunde und dachte an meine erste Begegnung mit Nora und Anna in dieser Küche. Nora hatte Anna den Arm um die Schulter gelegt, wie eine zwanglose Geste der Freundschaft, doch jetzt mutete sie mir anders an – als Zurschaustellung von Dominanz.
»Kommen Sie rein«, rief Nora von nebenan.
Ich trat an die Wechselsprechanlage und drückte einen Knopf, worauf ein rotes Licht aufglühte. Dann öffnete ich die Tür und ging durch ins Wohnzimmer. Der Raum war in weiches Mondlicht getaucht, und neben einem Lehnstuhl am hinteren Ende des Raums brannte eine Lampe. Dort, wo ich stand und den Raum überblickte, war es düster.
Nora saß knapp zehn Meter von mir entfernt, immer noch im Mantel, auf dem Sessel unter der Lampe, ihr Gesicht blass und reglos. In der rechten Hand hielt sie eine Waffe, die auf mich gerichtet war. Es war die Beretta, die sie aus dem Tresor geholt hatte. Ich hatte diese Waffe schon einmal gesehen und sogar in der Hand gehalten, doch ich hatte sie noch nie aus diesem Blickwinkel betrachtet. Hilflos starrte ich in das winzige Loch der Mündung, über der sich das Visier befand. Sie wies mit der Waffe wie mit einem kurzen Zauberstab auf das Sofa ihr gegenüber. Ich zögerte, doch ich konnte nichts tun. Gehorsam ging ich zum Sofa und setzte mich dahin, wo sie hinzeigte. Zwischen uns waren ungefähr drei Meter, etwas mehr Abstand als zwischen einem Psychiater und seinem Patienten. Sie sah mich an, und ich erwiderte ihren Blick. Es war keine Frage, wer hier Regie führte.
Aus der Nähe konnte ich erkennen, wie erschöpft sie war. Sie hatte noch keine Zuflucht zu Botox oder einem Skalpell genommen, und ihr Make-up erfüllte nicht mehr seinen Zweck. Alle Weichheit, die ich früher an ihr gesehen hatte, war verschwunden, zurückgeblieben war nur eine bedrohliche Leere.
»Sie brauchen keine Waffe, Mrs Shapiro«, sagte ich.
»Sagen Sie mir, was ich zu verlieren habe«, erwiderte sie, die Waffe weiter auf mich gerichtet. »Der Episcopal-Aufkleber auf Ihrem Auto hat mir verraten, dass ich Sie hier finden würde. Aber wo ist Anna? Die hübsche kleine Anna.«
So viel schrecklichen, toten Zynismus hatte ich in ihrer Stimme noch nie gehört. Von allen, die mich an der Nase herumgeführt hatten, war sie am geschicktesten gewesen. Die Frau vor mir war eine ganz andere als die, die ich zu kennen geglaubt hatte.
»Ich habe ihr gesagt, sie soll verschwinden. Sie ist irgendwo, wo es sicherer ist«, sagte ich und bemühte mich, das Zittern in meiner Stimme zu beherrschen.
» Sie haben es ihr gesagt?«, fragte sie spöttisch. »Früher hat sie ihre Anweisungen von mir entgegengenommen, aber wie ich sehe, haben die Dinge sich geändert.«
Sie machte mir Angst, doch mehr noch schmerzte ihr Verrat. Ich hatte ein paar Stunden gehabt, um mich daran zu gewöhnen, darüber hinwegzukommen würde sehr viel länger dauern. Warum hatte ich vom ersten Augenblick an so ein starkes Vertrauen in sie gesetzt? Sie hatte nicht viel tun müssen, um mich zu hintergehen, denn sie war meine Phantasie gewesen – die ruhige, hingebungsvolle Frau eines aggressiven, egoistischen Mannes. Ich war ihr zu Hilfe geeilt, ohne innezuhalten und ihre Geschichte zu hinterfragen.
In diesem Punkt hatte ich, wie ich jetzt wusste, versagt. Nicht Harry hatte ich in der psychiatrischen Notaufnahme falsch eingeschätzt, sondern Nora. Sie konnte ihr Spielchen mit mir spielen, weil ich ihr unbedingt glauben wollte. Sie war zu der Mutter geworden, die ich immer noch vermisste, und ich war herbeigeeilt, um Vergeltung zu üben an dem Mann, der sie, wie ich geglaubt hatte, betrogen
Weitere Kostenlose Bücher