Die Diagnose: Thriller (German Edition)
Irgendwann kam auch mein Bruder nach Hause, und wir schauten fern, bis mein Vater sagte, er werde meine Mutter vom Bahnhof Paddington abholen.
»Ich nehme Ben mit«, sagte er, »Guy kann hier die Stellung halten.«
Mein Vater hatte sich einen Rover gekauft, und ich durfte vorn sitzen, was er mir vorher noch nie erlaubt hatte. Die Sitze waren mit Leder gepolstert, und der Geruch stieg mir in die Nase, während wir fuhren und die Scheibenwischer quietschend den leichten Nieselregen von der Windschutzscheibe entfernten. Ich betrachtete die farbigen Abschnitte des Displays im Armaturenbrett, bis wir nach Paddington kamen und gegenüber dem Eingang zum Bahnhof am Bordstein warteten, wo meine Eltern sich verabredet hatten. Das Radio lief, und mein Vater beugte sich rüber, um es leiser zu drehen.
»Hör mal, Benny, tust du mir einen Gefallen?«, fragte er.
»Was denn, Dad?«
»Also, Jane, die du gerade kennengelernt hast – erwähn sie Mum gegenüber nicht, ja? Ich glaube, das bleibt besser unter uns.«
Ich verstand nicht ganz, was er meinte, doch ich sah seine Verlegenheit und das Flehen in seiner Miene – so hatte ich ihn noch nie erlebt. Es war das Gesicht eines Erwachsenen, ganz anders als ein Kindergesicht, mit seinen fleischigen Falten und Pockennarben, den Stoppeln und dem Schweiß. Mir kam er immer riesig vor − allein wegen schierer Körpermasse nicht aus der Bahn zu werfen −, doch in diesem Augenblick wirkte er verletzlich. Ich freute mich, dass er mich ins Vertrauen zog und meine Zustimmung erbat. Die Gegenwart einer anderen Frau in unserem Haus nicht zu erwähnen schien mir keine große Sache zu sein.
»Okay, Dad«, sagte ich.
Kurz darauf kam meine Mutter aus dem Bahnhof und lief in der Lücke hinter einem Bus über die Straße. Als sie mich sah, steckte sie den Kopf durch das runtergekurbelte Fenster auf der Beifahrerseite und lachte vor Erleichterung, wieder mit uns zusammen zu sein. Sie war damals nur ein paar Jahre älter als ich jetzt. Sie war in Virginia geboren, doch sie hatte ihr ganzes erwachsenes Leben in London verbracht, nachdem sie als Studentin in den Siebzigerjahren meinen Vater kennengelernt hatte. Die Briten sind angeblich vornehm und die Amerikaner Rüpel, doch sie widerlegte das. Sie hatte britische Gewohnheiten angenommen − Gartenpflege, den Besuch von Badeorten −, besaß aber nicht die amerikanische Grobheit.
»Na, wie ist es euch ergangen, Jungs?«, fragte sie fröhlich.
»Wir sind ohne dich gerade mal eben so zurechtgekommen«, antwortete mein Vater.
»Dann hat euch keine Frau im Haus gefehlt?«
»Was meinst du, Benny?«, fragte mein Vater mit einem warnenden Blick.
»Es war okay«, murmelte ich.
Er fuhr uns nach Hause, und meine Mutter bestand darauf, dass ich vorn sitzen blieb, während sie auf dem Rücksitz fröhlich plauderte. Sie war zwei Tage bei einer Freundin in Oxford zu Besuch gewesen. Als wir uns dem Haus näherten, hielten wir auf der Chiswick High Street, um Fisch und Chips mitzunehmen − eine Belohnung für gutes Betragen, wie mein Vater bemerkte.
Zeitweilig vergaß ich es, ja aalte mich in der Vertrautheit mit meinem Vater − der Tatsache, dass er sich in einer Angelegenheit, die ihm sichtlich etwas bedeutete, auf mich verließ. Jane war in meinem Kopf irgendwo abgelegt, bis die Streitereien meiner Eltern, die bis dahin selten und kurz gewesen waren, ein paar Monate später laut und gemein wurden. Aus meinem Schlafzimmer hörte ich, wie Drohungen und Beschuldigungen hin- und herflogen.
Mein Bruder, der drei Jahre älter war als ich, verachtete mich ob meiner Schwächlichkeit und verhöhnte mich, weil ich mitten in einer Vulkaneruption in Tränen ausbrach. Halb fasziniert und halb verängstigt, reichte er den Klatsch von seinen Ausflügen auf die halbe Treppe weiter, wo er belauschte, was meine Eltern sich brüllend an den Kopf warfen. Eine Frau namens Jane, berichtete er.
Kurz war ich versucht, damit zu prahlen, dass ich sie kannte, doch etwas hielt mich davon ab. Damit hätte ich verraten, dass ich Jane verschwiegen hatte, nicht nur vor ihm, sondern auch vor meiner Mutter. Als die Affäre meines Vaters ihrem unvermeidlichen Ausgang zustrebte − meine Eltern riefen uns nach unten, um uns eine geschraubte Erklärung abzugeben, mein Vater packte seinen Koffer und umarmte uns zum Abschied im Flur −, schwollen meine Schuldgefühle wegen der Komplizenschaft gewaltig an.
Nachdem er fort war, verbarg meine Mutter ihren Kummer vor uns − mit einer
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