Die Diagnose: Thriller (German Edition)
Ausnahme. Eines Tages – ich war inzwischen sechzehn und die auf die Scheidung folgenden Absprachen über Wochenenden, Geburtstage und Weihnachten waren zur Routine geworden – fand ich sie in unserem Wohnzimmer, wo sie ein Foto von uns vieren betrachtete, auf dem mein Vater den Arm um uns gelegt hatte.
»Ich wünschte, ich hätte es gemerkt, Ben. Dann hätte ich was tun können«, sagte sie.
Mein Herz krampfte wieder. Sie weinte nicht. Ich glaube, ihre Tränen hatte sie längst vergossen.
»Es war nicht deine Schuld«, sagte ich, mehr brachte ich in dem Alter nicht heraus.
Von diesem Augenblick an hatte ich in Gegenwart meines Vaters ein unsicheres Gefühl, als säßen wir wegen unseres gemeinsamen Betrugs in der Falle, und er wusste nicht, ob ich ihr die Wahrheit gesagt hatte. Es war uns beiden unmöglich, offen darüber zu reden, erst recht nach ihrem Tod.
Zehn Jahre nach der Scheidung starb meine Mutter an Krebs, während ich in London Medizin studierte. Es war für mich der Auslöser, nach New York zu gehen, um der schuldbeladenen Jovialität meines Vaters zu entkommen und Janes Erleichterung darüber, dass sie nicht mehr konkurrieren musste. Bei der Beerdigung saß Jane zwei Reihen weiter hinten, während mein Vater mit meinem Bruder und mir die vordere Reihe einnahm; erst am Grab trat sie näher, um neben ihm zu stehen – was ihre Anwesenheit nicht weniger schmerzlich machte.
Im Kiosk, der Zeitungen, Süßigkeiten und schimmernde Heliumballons mit fröhlichen Botschaften für die Patienten verkaufte, stieß ich auf dem Weg aus dem Krankenhaus auf Jane. Sie drehte mir den Rücken zu, als sie nach einer Zeitschrift griff. Der weiße Träger ihres BHs zeichnete sich auf eine Art unter ihrer cremefarbenen Bluse ab, die sowohl Verlangen als auch Feindseligkeit in mir weckte. Das war, wie ich als Erwachsener gelernt hatte, kein Widerspruch. Ich gab ihr lässig einen Kuss auf die Wange, streifte dabei kaum ihre Haut und meinte, mein Vater sehe gut aus.
»Hast du wenigstens Zeit für eine Tasse Kaffee?«, fragte sie, als wäre es typisch für mich, dass ich davonrauschte.
Ich bin gerade über den verdammten Atlantik geflogen, um ihn zu sehen , dachte ich, behielt es jedoch für mich und nickte nur. Wir fanden einen Platz im Lichthof des Krankenhauses, in der Hand zwei Becher geschäumte Milch, mit braunem Puder bestäubt. Ein wolkiger Himmel lieferte von oben ein wenig Helligkeit.
»Wie geht es dir ?«, fragte sie. »Wir haben dich ja Ewigkeiten nicht gesehen. Ich hoffe, du hast Roger gesagt, er muss seine Ernährung umstellen. Du weißt ja, wie er ist.«
»Klar«, sagte ich und erwiderte ihr Lächeln, trotz der leisen Rivalität, die ich immer noch empfand, wenn sie so besitzergreifend über meinen Vater sprach. Wir verblieben in vorübergehender Eintracht, während ich ihr in einfachen Begriffen erklärte, was mit seinem Herz passiert war. Sie machte den Eindruck, als wäre sie froh darüber.
Doch die Entspannung hielt nicht lange. »Wann sehen wir Rebecca mal wieder?«, fragte sie und leckte mit der Zunge am Milchschaum. »Ich finde sie toll, Ben. Lass sie bloß nicht gehen.«
»Ich fürchte, wir machen eine Pause«, sagte ich steif.
»Oh, Ben . Warum? Sie ist so eine nette junge Frau.«
So war Jane. Kein bisschen Sensibilität, kein Gefühl dafür, dass es Dinge gibt, die man besser auf sich beruhen lässt. Ich hatte nicht dafür bezahlt, dass ein Seelendoktor in meinen schuldbeladenen Geheimnissen herumstocherte − ich wollte bloß in Ruhe gelassen werden. Mir brach der Schweiß aus, und ich sehnte mich hier raus, um nicht länger emotional Rechenschaft ablegen zu müssen.
»Ja, ist sie. Du hast recht, Jane. Es ist alles meine Schuld«, sagte ich und stand auf.
Von dem ganzen angestauten Groll gegen sie fing mein Herz an zu rasen. Es brauchte nicht viel, um ihn zu entfachen, und mir war klar, dass ich unser Gespräch beenden musste, bevor ich etwas sagte, was ich später bereuen würde. In dem Augenblick schaute ich auf und sah einen schwarzen Audi vor dem Eingang halten. Ich erkannte ihn. Er hatte dort nichts verloren, aber ich war froh, dass er so dreist vorgefahren war.
»Ich muss los. Ich werde mitgenommen«, sagte ich entschlossen. »Ich rufe später an, um zu schauen, wie es Dad geht. Mach’s gut.«
Ich eilte durch den Lichthof, bevor Jane mich aufhalten konnte, und die Eingangstüren glitten gehorsam auf und ließen mich entkommen.
5
Als ich mich dem Audi näherte, stieg ein
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