Die Diagnose: Thriller (German Edition)
hört nicht mehr auf mich. Kann er nicht ambulant behandelt werden? Ich sorge dafür, dass er in Sicherheit ist. Die Waffe habe ich weggeschlossen, wie Sie gesagt haben.«
Ich schürzte die Lippen und dachte nach. Ich war nicht glücklich darüber, Harry in diesem Zustand gehen zu lassen, doch wenn Nora nichts ausrichten konnte, musste ich mich gegen Harry und Duncan stellen, um ihn hierzubehalten. Hier stand die geringe Chance, dass Harry Selbstmord beging, gegen meinen sicheren beruflichen Selbstmord, wenn ich mich ihm in den Weg stellte. Nora sah mich flehentlich an, und ich merkte, dass ich schwach wurde. Sie hat gezeigt, dass sie sich um ihren Mann kümmern wird , dachte ich. Es ist ja nicht so, als würde ich jemanden entlassen, der niemanden hat, um auf ihn aufzupassen.
»Also, wenn Sie ihn nicht dazu bringen können, seine Meinung zu ändern … Aber wir brauchen einen Plan, er muss sich unbedingt sofort in Behandlung begeben. Kennen Sie einen Psychiater, zu dem er bereit wäre, regelmäßig zu gehen?«
»Harry möchte von Ihnen behandelt werden«, sagte sie. »Er mag Sie.«
Ich muss zugeben, dass mich das freute, schließlich hatte ich gehofft, dass Harry von mir behandelt werden wollte. Jim würde nicht begeistert sein, doch das war mir egal. In gewisser Weise war ich auch erleichtert – und so rechtfertigte ich es vor mir –, denn wenn ich Harry schon entlassen musste, war ich so wenigstens in der Lage, auf ihn achtzugeben. Egal, es gab keine Alternative: Er ließ sowohl Nora als auch Duncan nach seiner Pfeife tanzen. Ich würde ihn auf Lexapro setzen, ein Antidepressivum, das ihn nicht noch mehr aufwühlen würde, und 50 Milligramm Klonopin zweimal am Tag. Ich verabredete mit Nora einen Termin für ihn in zwei Tagen in meinem Büro und gab ihr meine Telefonnummer für den Fall, dass seine Stimmung sich verschlechterte.
Dann unterzeichnete ich die Entlassungspapiere und ließ ihn gehen.
4
Am Dienstag wurde ich kurz nach der Morgendämmerung vom Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Ich tastete nach dem Hörer, der immer noch auf Rebeccas Seite lag.
»Ben?«, sagte eine hohe Stimme – die zweite Frau meines Vaters. »Hast du geschlafen? Oder ist es Abend?« Jane hatte keine rechte Vorstellung von den Zeitzonen und addierte oft die Fünfstundendifferenz zwischen London und New York, statt sie abzuziehen.
»Nein, kein Problem. Ich bin wach«, log ich instinktiv und kniff die Augen zusammen, um auf meinen Wecker zu schauen. »Es ist sechs. Sechs Uhr morgens.«
»Es geht um deinen Vater«, sagte sie und bemerkte gar nicht, dass meine Verneinung recht unlogisch klang. »Er hatte einen Herzinfarkt, aber ich glaube, es geht ihm gut. Er liegt im Middlesex Krankenhaus …«
Ihre Stimme verlor sich unsicher, als wüsste sie nicht recht, wo sie war und was sie tun sollte, und ich empfand plötzlich Mitgefühl, was ungewöhnlich war. Meine Müdigkeit war verflogen, doch ich hatte Mühe zu begreifen, was passiert war, während meine Gefühle sich unsicher im Hintergrund drängelten. Ich wollte, dass es ihm gut ging, aber da war auch noch etwas Düsteres − eine schuldgefühlbeladene Genugtuung, dass selbst er sterblich war. Selbst er konnte aus seinem triumphalen Kurs geworfen werden.
»Beim Aufstehen ging es ihm gut. Er war in der Küche, wo er sich einen Kaffee machte und mir von einem Fall erzählte. Plötzlich sagte er, er hätte Schmerzen im Arm. Er wollte sich hinsetzen, doch da wurde er schon ohnmächtig. Ich habe den Krankenwagen gerufen.«
»Ist er jetzt bei Bewusstsein?«
»Ja, im Krankenhaus ist er wieder zu sich gekommen. Sie machen etliche Untersuchungen. Ist Rebecca da? Ich dachte, sie wüsste, was man tun muss.«
Meine Freundin − oder Exfreundin, wie ich langsam zu akzeptieren lernte − hatte vor zwei Wochen ihre Sachen ausgeräumt und ihre Ratlosigkeit und Verletztheit an der Wohnzimmerwand ausgelassen. Ihr Tisch und ihre Regale waren fort, und in der Wand war ein gutes Dutzend Löcher zurückgeblieben, die der Mieter − in dem Fall ich − reparieren musste. Ich hatte mir den kaputten Putz angesehen an den Stellen, wo sie eindeutig die Fassung verloren und die Schrauben einfach rausgerissen hatte, und hatte gedacht, wie ungewöhnlich das doch war. Schließlich war sie als Chirurgin berühmt für ihre Ruhe und Präzision.
»Sie ist weg. Was haben sie über seinen Zustand gesagt?«, fragte ich und empfand einen Stich, weil sie mich als Arzt abgeurteilt hatte, der kein
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