Die Diagnose: Thriller (German Edition)
kümmern, und ich werde versuchen, jeglichen Vorwurf der Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht abzuwehren. Inzwischen hielte ich es für das Beste, wenn Sie nichts sagten, oder?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, stand sie auf und ging zur Tür, wo sie sich umwandte und mir zunickte, als hätte ich mich schon einverstanden erklärt.
Nachdem sie fort war, trat ich ans Fenster und ließ den Blick über die Außenmauern des Krankenhauses schweifen, die der Architekt weiß verblendet hatte, während die Fensternischen gotische Bögen hatten wie eine Kathedrale. Damit hatte er nicht ganz unrecht, dachte ich. Für viele East-Side-Oberschwestern war es fast so etwas wie ein Ort der Anbetung. Und die Liste derer, die wollten, dass ich den Mund hielt, wurde immer länger: Anna, Jim und jetzt Duncan. Doch Harry hatte es nicht verdient, dass ich schwieg. Er war ein Narzisst, dem nichts an anderen lag – an Nora nicht und an seiner Geliebten vermutlich auch nicht. Wenn er zu mir in Therapie gekommen wäre und ich seinen unerbittlichen Aufstieg an der Wall Street, seine zwei Ehen und seine Affäre genauer hätte ergründen können, wäre ich womöglich auf einen schüchternen Jungen mit einem gefühllosen Vater gestoßen, der nicht gut mit Demütigung umgehen konnte. Na und?, dachte ich. Er ist ein Mörder.
Ich dachte daran, was Anna über ihren Psychiater gesagt hatte: Ich hätte ein schrecklicher Mensch sein können, und er hätte es nicht gemerkt . Harry war ein schrecklicher Mensch, und ich wollte nicht sein Vasall sein. Wenn ich schwieg, hockten Pagonis und Baer mir ewig im Nacken und drängten mich, ihnen alles zu erzählen. Der einzige Weg, sie loszuwerden, war, Joe zu erlauben, einen Deal für mich auszuhandeln.
Doch ich hatte ihm nichts erzählt, was mir helfen könnte, und warum nicht? Weil ich einer jungen Frau, in die ich verknallt war, ein Versprechen gegeben hatte. Das war nicht Loyalität, das war die schiere Dummheit. Solange sie mich nicht von meinem Versprechen entband, hockte ich in der Falle.
Anna war einverstanden, sich im Le Pain Quotidien an der Upper East Side in der Nähe des Krankenhauses mit mir zu treffen, wo ich manchmal die Mittagspause verbrachte. Es war ein weiter Weg von der Wohnung der Shapiros, doch sie sagte, es sei ihr lieber so. Sie war schon da, als ich kam, saß im hinteren Bereich an einem der langen Tische, in ein Taschenbuch vertieft. Den Mantel hatte sie neben sich über die Bank gelegt, und sie trug einen roten Kapuzenpullover und ein T-Shirt mit rundem Ausschnitt, eine silberne Halskette und eine graue Hose. Es war eine ganz normale Aufmachung, und sie hatte auch kein Make-up aufgelegt. Trotzdem fand ich sie einfach bezaubernd. Sie hielt eine Tasse Kaffee in einer Hand, und ich stand schon fast vor ihr, als sie aufschaute.
»Oh, mein Gott. Was ist passiert?«, fragte sie und hob schockiert eine Hand an den Mund. Der Anblick meines Gesichts schien ihr wehzutun, als wäre sie selbst tätlich angegriffen worden. Es rührte mich, wie persönlich sie es nahm. Als ich mich neben sie setzte, streckte sie die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen kurz meine Schläfe, zog die Hand jedoch rasch zurück, als bereute sie die intime Geste.
»Nachdem wir uns getrennt hatten, bin ich im Park einem Typ über den Weg gelaufen, der mich wohl nicht besonders mochte«, sagte ich.
»Gütiger Himmel, Ben«, sagte sie benommen. Sie schien nachzudenken, als hätte sie Mühe zu begreifen, was passiert war. »Ich bin mit dir da reingegangen. Wie konnte ich nur so dumm sein? Du musst vorsichtig sein. Versprich mir das.«
Nicht noch ein Versprechen , dachte ich – sie hatte wirklich den Dreh raus, Menschen Versprechungen abzuringen.
»Ich verspreche, nach rechts und nach links zu schauen, bevor ich die Straße überquere.«
Sie lächelte nicht. »Mist«, sagte sie leise, als bräuchte sie noch einen Moment, um es zu verdauen. Ihre Miene war bedrückt, und eine Träne lief aus dem Augenwinkel über ihre Wange, die sie mit dem Handrücken wegwischte. Ich hätte gern ihre Hand genommen, doch ich war schrecklich nervös, und diese Nervosität war eine genauso große Barriere wie die Plexiglasscheibe, die im Besuchsraum des Riverhead-Gefängnisses die Tische teilte. Um ihr Zeit zu geben, sich wieder zu sammeln, rief ich die Kellnerin und bestellte eine Tasse Tee. Wir saßen eine Weile schweigend da, bis sie erneut das Wort ergriff und dabei einen Krümel vom Tisch schnippte.
»Ich bin froh,
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