Die Diagnose: Thriller (German Edition)
Beine übereinander und stellte ihre schwarze Ledertasche auf den Boden. Sie war sorgfältiger zurechtgemacht als die meisten Frauen, die ich kannte − ja, so perfekt, dass es aussah, als trüge sie eine Maske. Ihr roter Lippenstift passte farblich zu den Sohlen ihrer Christian-Louboutin-Schuhe, und die Bögen ihrer Augenbrauen waren exakt gezupft.
»Wie sind Sie auf mich gekommen?« fragte ich.
Sie zögerte ein paar Sekunden, und ich sah, dass sie mich einzuschätzen versuchte. Wir kannten beide die Antwort auf diese Frage, doch sie umschiffte sie.
»Sie stehen doch auf so einer Liste, oder? Top-Ärzte in New York«, sagte sie.
Ich kannte die Liste des New York Magazine , und da stand ich definitiv nicht drauf. Beim Lächeln zeigte sie perlweiße Zähne hinter roten Lippen. Sie erweckte den Anschein, alles vollkommen unter Kontrolle zu haben − sie würde nur offenlegen, wozu sie bereit war.
Dabei machte sie nicht im Geringsten den Eindruck, krank zu sein, und sie war auf jeden Fall deutlich weniger angeschlagen als Harry bei unserer ersten Begegnung. Sie sprach aufgeweckt und in normalem Tempo, ihr Gesicht war voller Leben, und sie lächelte bereitwillig; also, unter Depressionen litt sie auf keinen Fall. Es war denkbar, dass sie unter einer bipolaren Störung oder etwas anderem litt, doch auch dafür gab es kaum Anzeichen. Sie war nicht manisch, und sie war geistig klar und rational. Im Gegenteil, sie wirkte weniger gestresst als ich.
»Darf ich Sie fragen, warum Sie sich für eine Therapie interessieren?«, fragte ich. »Passiert in Ihrem Leben gerade etwas?«
Sie sah mich an, als würde sie über die Frage nachdenken, doch sie zeigte keinerlei Anzeichen dafür, sie beantworten zu wollen. Stattdessen lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück, atmete langsam durch die Nase aus und sammelte sich.
»Kann ich Sie etwas fragen?«, erwiderte sie. »Kann ich ganz sicher sein, dass nichts von dem, was ich Ihnen sage, diesen Raum verlässt?«
»Natürlich. Das ist vertraulich.«
»Ich habe von Fällen gehört, da wurden persönliche Angelegenheiten vor Gericht gebracht«, sagte sie, ohne den Blick abzuwenden. »Dinge, die ein Patient seinem Psychiater anvertraut hatte.«
Ich erwiderte ihren Blick. Wir wussten beide genau, was sie meinte, und es war uns auch klar, dass der andere es wusste. Es war absurd. Ich hätte ihr augenblicklich Einhalt gebieten und ihr sagen sollen, dass ich sie nicht behandeln konnte. Alles, was sie mir in diesen vier Wänden anvertraute − einschließlich ihrer Affäre −, kam augenblicklich unter Verschluss. Selbst wenn Anna mich von meinem Versprechen entband − wofür sie nicht die geringste Bereitschaft gezeigt hatte −, musste es ein Geheimnis bleiben, und dann hatte ich Pagonis und Baer nichts zu erzählen. Die ärztliche Schweigepflicht band mich fester denn je.
Es war, als würde ich mich immer weiter in die Sache verstricken, wo ich mich doch eigentlich freizukämpfen versuchte. Trotzdem konnte ich nicht widerstehen. Die Verlockung war so mächtig wie damals, als ich zwölf Jahre alt war und mein Vater sich im Auto flehentlich an mich wandte und mich bat, Janes Anwesenheit in unserem Haus für mich zu behalten. Ich hatte mich in Harrys Welt hineinziehen lassen, und jetzt musste ich die Wahrheit erfahren. Anna hatte die beiden nur von Weitem ausgespäht, sie könnte mir nicht mehr erzählen. Selbst wenn ich nie wieder aus diesem Wirrwarr herausfand, wollte ich zuerst weiter eindringen.
»Das ist nur der Fall, wenn ein Patient, der eines Vergehens angeklagt wird, den Arzt von seiner Schweigepflicht entbindet. Es ist seine Entscheidung, nicht die des Arztes«, erwiderte ich.
Sie lächelte. »Sie haben eine Fürsorgepflicht. Wie ein Banker.«
»Vermutlich. Ich bin kein Experte.«
»Dann nehmen Sie mich als Patientin an?«
»Vielleicht sollten Sie mir erst einmal ein wenig über sich erzählen.«
»Dreiunddreißig, getrennt, Investmentbankerin. Was noch?«, fragte sie, als wäre das Thema ihrer Persönlichkeit damit erschöpfend abgehandelt.
»Sie sind getrennt?«
Sie seufzte, und ihr Selbstbewusstsein geriet ein wenig ins Wanken. Sie wandte den Blick ab und richtete die nächsten Worte an das Bücherregal vor der Wand.
»Die Wall Street ist ein unbarmherziger Ort. Man wird mit Anfang dreißig Partnerin und muss hart arbeiten, um sich zu beweisen, härter als die Männer. Sieben oder acht Meetings am Tag, kein freies Wochenende. Mein Mann konnte das nicht akzeptieren. Er
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