Die Diagnose: Thriller (German Edition)
Weile abgesperrt. Anna kommt bald her, um drinnen umzugestalten, auch wenn ich noch nicht weiß, ob wir bleiben.«
»Lassen Sie sich Zeit. Sie müssen keine großen Entscheidungen treffen.«
Das rieten wir Menschen immer, die unter einer Depression litten – solange sie in diesem labilen Zustand waren, nichts zu tun, was sie später womöglich bereuten. Doch ich war mir nicht sicher, ob das wirklich klug war. Nichts zu tun ist schließlich auch eine Entscheidung.
Die Brise vom Meer blies ihr die Haare in die Augen, und sie schob die Strähnen weg, um mich anzusehen. »Sie sind ein guter Mann, Dr. Cowper. Das tut mir alles so leid. Gehen wir rein und reden wir, ja?«
Sie führte mich an der Rückseite des Hauses entlang, und wir betraten das Haus durch eine Tür in der Nähe der Schlafzimmer und folgten einem Flur in einen Raum, der wohl ihr Arbeitszimmer war. An einem Fenster stand ein reich verzierter französischer Schreibtisch, darauf eine Vase mit Blumen. Sie setzte sich in einen antiken Sessel, hinter dem vier Miniaturporträts in Öl hingen.
»Ich habe mit Sarah gesprochen, wie Sie mich beim letzten Mal gebeten haben«, sagte sie. »Da ist mir erst klar geworden, wie hart die Sache für Sie ist.«
Gott sei Dank kriegt wenigstens einer es mit, dachte ich. Ich hielt mich an die professionelle Antwort, auch wenn ich hoffte, dass sie sie nicht allzu wörtlich nahm.
»Sie müssen tun, was für Ihren Mann das Beste ist. Das ist das Einzige, worüber Sie sich Sorgen machen sollten.«
»Ich würde gern etwas über Harry sagen, Doktor. Er ist ein guter Mann, und er hat etwas sehr Unschönes erlebt. Er ist ins Schwimmen geraten und hat etwas Schreckliches getan, aber ich kann nicht zulassen, dass er den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringt. Das hat er nicht verdient.«
Nora streifte ihre Gartenhandschuhe ab, legte sie über ein Knie und strich mit einer Hand darüber. Dann senkte sie den Kopf, und eine Träne tropfte von ihrer Nasenspitze, landete auf dem Handschuh und hinterließ dort einen dunklen Fleck. Ihr Gesicht war blass geworden, und ihre Wimperntusche verlief. Ich stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch, um ihr aus einer Box ein paar Papiertaschentücher zu reichen. Sie schnäuzte sich, dann trat sie an ein Fenster mit Blick auf die Einfahrt und durch die Bäume aufs Gästehaus.
»Sarah macht sich Sorgen, Margaret könnte das Krankenhaus verklagen, aber das kann ich ihr sicher ausreden«, sagte sie. »Wir einigen uns mit ihr über den Schaden. Wir haben das Geld. Unser Anwalt sagt, wir sind eh die Ersten, die verklagt werden.«
»Das ist sehr großzügig von Ihnen, Mrs Shapiro, aber ich weiß nicht, ob das viel hilft. Ich könnte trotzdem wegen Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht angeklagt werden.«
»Sarah ist der Meinung, dass sie Sie schützen kann«, sagte Nora, deren Augen noch feucht glitzerten. »Ich habe ihr gesagt, das muss sie unbedingt, um des Krankenhauses willen. Ich will nicht, dass Ihr Leben so ruiniert wird wie Harrys.«
Zu hören, dass die beiden über mein Schicksal verhandelt hatten, hatte etwas Unwirkliches, und ich überlegte kurz, ob Nora meine Probleme genauso zu lösen gedachte wie Harrys. Doch ihr Verhalten lenkte mich ab. Plötzlich lächelte sie strahlend, und ihre Hände zitterten ein wenig. Der Stimmungsumschwung geschah so abrupt, dass ich mir Sorgen machte, sie könnte jeden Augenblick hysterisch werden.
»Haben Sie heute schon etwas gegessen?«, fragte ich.
»Nein. Die Küche ist da drüben.«
Sie zeigte auf die Wand, und ich begriff, dass sie Angst davor gehabt hatte hineinzugehen, denn dann hätte sie am Tatort vorbeigemusst.
»Sie sollten sich setzen. Ist irgendetwas zu essen im Haus?«, fragte ich.
»Anna hat gesagt, es wäre was da«, antwortete Nora gehorsam.
Ich ging den Flur runter und sah mich um, als ich durchs Wohnzimmer kam. Es war gruselig still, die abgedeckten Möbel waren in die Ecken geschoben, und in der Luft lag ein scharfer Chemikaliengeruch. Die Schränke in der Küche und der Kühlschrank waren voll mit Essen, und im Kühlschrank war auch Milch. Anna hatte gut vorgesorgt.
Ich machte Rührei auf Toast für uns beide und trug es auf einem Tablett zu Nora. Es war ein gutes Gefühl, ihr helfen zu können. Anna war nicht da, und Harry war im Gefängnis − sonst hatte sie niemanden. Als sie aufgegessen hatte, bekam sie wieder etwas Farbe im Gesicht.
»Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Freundlichkeit«, sagte ich schließlich.
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