Die Diagnose: Thriller (German Edition)
war und im Krankenhaus hätte bleiben sollen. Baer wird seinen eigenen Psychiater hinzuziehen, der das Gegenteil behaupten wird. Der Typ ist so gesund wie Sie und ich und hat die ganze Sache clever eingefädelt.«
Das klang sehr zynisch, aber ich hatte Kollegen, die als forensische Psychiater arbeiteten, und normalerweise fanden sie eine Möglichkeit, genau die geforderte Diagnose zu stellen. An der menschlichen Psyche ist nichts in Stein gemeißelt, und das gibt Raum zum Improvisieren.
»Was halten Sie davon?«, fragte Joe und wandte sich um, um mich anzusehen. Er hatte sein gewohnt liebenswürdiges Gesicht aufgesetzt, doch er studierte aufmerksam meine Miene.
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte ich.
In der psychiatrischen Notaufnahme war ich mir sicher gewesen, Harry sei im schlimmsten Fall selbstmordgefährdet – er war mir wie der klassische Fall einer Midlife-Depression vorgekommen. Doch nach unserer Begegnung im Gefängnis hatte ich mich gefragt, ob er mich die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hatte. Wir gingen weiter und kamen an einer Frau vorbei, die zwei Kinder ins Gericht schleifte – vermutlich, um zuzusehen, wie ihr Vater zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Kein besonders toller Start ins Leben, dachte ich.
»War’s das dann?«, fragte ich.
»Ich hoffe es«, antwortete Joe und stieg in seinen Lexus.
Er winkte fröhlich, als er vom Parkplatz kurvte und in Richtung Highway abbog. Ich wartete, bis er außer Sichtweite war, bevor ich zu meinem Auto ging, doch kurz bevor ich es erreichte, hörte ich jemanden rufen und sah Pagonis auf mich zukommen. Sie hatte es so abgepasst, dass sie mich ohne meinen Anwalt erwischte.
»Wer hat Sie überfallen?«, fragte sie, als sie mich erreicht hatte.
»Keine Ahnung.«
»Sie wissen so einiges über Shapiro, was Sie uns nicht sagen, was?«, schoss sie ihre nächste Frage nach und machte kaum eine Pause, nachdem sie mich so überrumpelt hatte. »Wir finden noch heraus, was Sie verheimlichen.«
Ich merkte, dass ich rot anlief vor Verlegenheit, drehte mich zu meinem Wagen um, um es vor ihr zu verbergen, und holte den Schlüssel heraus. Meinem Anwalt kann ich es nicht sagen, da werde ich den Teufel tun und es dir anvertrauen , dachte ich.
»Sie vergeuden Ihre Zeit, Detective«, sagte ich.
»Das glaube ich nicht, Doktor .«
Das letzte Wort spuckte sie regelrecht aus, als glaubte sie nicht daran, dass ich als Arzt überhaupt etwas beitragen konnte, und stolzierte davon. Ich stieg in meinen Wagen und blieb ein paar Minuten reglos sitzen, um mich zu beruhigen, bevor ich gemächlich vom Parkplatz fuhr und mich auf den Weg gen Süden machte.
Nebel trieb vom Meer herein, als ich zum Haus der Shapiros fuhr, und über die auf der Düne aufgereihten Häuser. Die Felder und Teiche in der Ferne hinter dem Haus wirkten flach und trostlos. Es war mein erster Besuch allein – das letzte Mal hatte Anna mich über die schmale Straße zum Haus gefahren. Als ich zu den Weiden an der Einfahrt zum Kiesweg kam, versuchte ich so schwungvoll hochzufahren wie sie, doch ich hatte die Geschwindigkeit falsch eingeschätzt, und oben drehten die Reifen im Kies durch.
Nora war im Garten hinter dem Haus, sie hockte im Gärtnerkittel zwischen den Blumenbeeten und schnitt Blüten ab. Als ich aus dem Wagen stieg, schaute sie über die Schulter zu mir hin. Dann kam sie näher, blieb aber ein paar Schritte vor mir stehen, statt mich in die Arme zu nehmen.
»Ihr Gesicht«, sagte sie besorgt, als würde sie keine weiteren schlechten Nachrichten ertragen.
»Nur ein kleiner Unfall. Nichts Ernstes.«
Wir standen beim Wintergarten auf der Rückseite des Hauses, und ich sah, dass die Sofas im Wohnzimmer mit weißen Tüchern verhüllt waren. Der Boden war nackt, der Teppich mit dem geometrischen Muster – auf dem Greenes blutüberströmte Leiche gelegen hatte – war fort. Die Holzdielen wiesen neben ein paar dunklen Flecken noch Schrammen auf – die letzten Spuren dessen, was sich hier abgespielt hatte.
Nora hatte mich an dem Tag, nachdem ich überfallen worden war, angerufen. Ich war zu Hause gewesen, um mich auszuruhen, und dem Krankenhaus schien es nur recht zu sein, wenn ich aus dem Weg war. Sie habe sich gerade mit Duncan unterhalten, hatte Nora gesagt, und würde gern etwas mit mir besprechen.
»Ich versuche, den Garten in Ordnung zu halten«, sagte sie. »Es wächst alles so schnell, und die Männer waren eine Zeit lang nicht hier. Die Polizei hatte das Haus eine ganze
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