Die Diagnose: Thriller (German Edition)
habe meinen Job nicht gut gemacht.«
Das Wort ermordet schien Nora zu treffen wie ein Fausthieb. Sie beugte sich auf ihrem Stuhl vor und starrte mich an, und ich sah den Schmerz in ihren Augen. Es war, als hätte ich in fremden Zungen gesprochen und sie hätte Mühe, mich zu verstehen.
»Wie können Sie das sagen?«, schrie sie. »Sie haben ihn behandelt. Sie haben gesehen, in was für einem Zustand er war. Harry hat Marcus nicht ›ermordet‹. Er hat nicht gewusst, was er tat.«
Ich beugte mich auf meinem Stuhl vor, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und verschränkte die Hände. Ich wollte sie nicht noch mehr aufregen, aber es war wichtig, dass sie mir zuhörte. Um ihretwillen. Es gab Dinge, die ich ihr über Harry nicht erzählen konnte – Lauren war jetzt meine Patientin –, aber ich würde nicht damit hinter dem Berg halten, was ich von ihm hielt. Wenn Harry wegen Mordes hinter Gitter kam, sollte Nora sich nicht für den Rest ihres Lebens grämen.
»Mrs Shapiro«, sagte ich langsam, »alles, was ich seit dem Mord erfahren habe, hat mich davon überzeugt, dass ich die falsche Diagnose gestellt habe. Ich glaube nicht, dass er je selbstmordgefährdet war. Er wollte Mr Greene von Anfang an töten. Deswegen hatte er die Waffe.«
»Nein. Nein. Das glaube ich nicht«, sagte sie, stand auf und fasste mit der linken Hand an den rechten Ellbogen. »Niemals werde ich das glauben. Sie irren sich, Doktor. Ich dachte, Sie würden Harry verstehen, aber das tun Sie nicht. Sie werden ihn nie verstehen.«
Wie sie so dastand, schämte ich mich. Ich war hergekommen, um ihr die Wahrheit zu sagen, aber eigentlich hätte ich Harry damit konfrontieren müssen, nicht seine Frau. Es war nicht ihre Schuld, dass er sie an der Nase herumgeführt hatte. Was war nur in mich gefahren, dass ich mich einer Frau gegenüber, die eh schon am Boden zerstört war, aufführte wie ein Rächer?
»Es tut mir leid«, sagte ich leise. »Sie haben recht. Ich kenne Ihren Mann nicht so gut wie Sie. Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.«
Sie hatte die Augen geschlossen und stand wie erstarrt da, mit angespannten Muskeln, als würde mein Ausbruch sie noch quälen. Schließlich entspannte sie sich ein wenig und setzte sich wieder. So verzweifelt wie jetzt hatte ich sie noch nie erlebt, nicht einmal in ihrem Arbeitszimmer in East Hampton.
»Ja, vermutlich«, sagte sie.
Sie blieb sitzen, als ich das Arbeitszimmer verließ und die Wohnungstür öffnete, um zu gehen. Vor Augen hatte ich noch ihr Bild, wie sie mit gefalteten Händen im Schoß dasaß, den Blick blind auf ein fröhliches Acrylgemälde gerichtet, das zweifellos eine Million Dollar gekostet hatte.
Nachdem ich die gewohnte Wartezeit erduldet hatte, erschien Duncan und winkte mich durch. Mir war in ihrem Büro noch nie etwas Persönliches aufgefallen, doch als ich mich setzte, fiel mein Blick auf zwei gerahmte Fotos auf ihrem Schreibtisch. Auf einem war ein ungeschlachter Bursche, der ein Ruder hielt, auf dem anderen ein Mädchen im Teenageralter mit Zahnspange.
»Ihre?«, fragte ich und zeigte darauf.
»Louisa ist meine Tochter. Der kräftige Kerl ist mein Stiefsohn. Er ist in Stanford«, sagte sie. »Sie haben keine Kinder, nicht wahr?«
»Nicht einmal eine Frau, fürchte ich.«
Es entstand eine kurze Pause, in der wir beide höflich lächelten. Das wusste sie doch alles längst, schließlich hatte sie meine Personalakte gelesen. Beim Small Talk konnte ich ihr nichts über mich erzählen, was ihr nicht schon bekannt war. Doch das störte mich nicht, denn ich hatte ihr andere Dinge verheimlicht und würde sie gleich auf den aktuellen Stand bringen. Nach meiner Beschämung darüber, wie ich Nora konfrontiert hatte, war dies hier eine Erleichterung. Es war mir egal, wenn ich Duncan auf die Palme brachte.
»Sie wollten mich sehen?«, fragte sie.
»Ich wollte Sie informieren, dass ich darüber nachgedacht habe, was Sie bei unserem letzten Treffen vorgeschlagen haben, und Ihnen meine Antwort mitteilen.«
»Die da lautet?«, sagte sie eisig, als fände sie es nicht lustig, dass ich Spielchen spielte. Sie wollte nur schweigenden Gehorsam.
»Nein«, sagte ich.
»Nein, was?«
»Nein, ich werde nicht den Mund halten. Dazu ist es zu spät. Ich habe die Staatsanwaltschaft darüber informiert, was passiert ist, als Mr Shapiro im Episcopal aufgenommen wurde, und warum ich ihn entlassen habe. Ich habe gestern vor einer Grand Jury ausgesagt.«
» Was haben Sie getan?«, fragte Duncan
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