Die Diagnose: Thriller (German Edition)
unter Druck gesetzt hatte und was Harry am Strand zu mir gesagt hatte. Ich würde ihm sagen, dass Harry ein Mörder war.
Als ich aus der Dusche trat, war ich erleichtert, als wäre eine Last, die ich seit Wochen mit mir herumschleppte, von mir genommen worden. Mein Job war es, die Geheimnisse der Menschen zu wahren, doch Harry hatte genau das gegen mich benutzt, und das würde ich nicht länger zulassen. Ich wusste nicht, warum er Greene umgebracht hatte, doch das herauszufinden war Baers Aufgabe, nicht meine. Ich werde ihn verpfeifen, dachte ich, und das klang weitaus besser, als jemand zu sein, der Fakten unterschlägt. Beim Frühstück summte ich fröhlich vor mich hin, und als ich fertig war, griff ich zum Telefon, um ein paar Termine zu machen.
Zuerst fuhr ich zu der Wohnung der Shapiros, und als ich im Aufzug in den siebenunddreißigsten Stock fuhr, überlegte ich, ob Anna wohl dort war. Ist mir egal, dachte ich. Sie ist Harrys Hausangestellte, soll sie doch die Konsequenzen tragen . Als ich aus dem Aufzug trat, setzte ich das passende Gesicht für sie auf – ich äffte das böse Starren nach, mit dem sie mich beim letzten Mal bedacht hatte –, doch als Nora mir die Tür öffnete, wurden meine Züge weicher. Das hier würde das Schwerste werden. Ob ich Harry gegen mich aufbrachte, war mir inzwischen egal, doch an ihr lag mir immer noch etwas. Sie hatte nichts Unrechtes getan, sondern nur versucht, sich um ihren Mann zu kümmern, und was ich zu sagen hatte, würde ihr nicht gefallen.
»Anna ist draußen beim Haus, um klar Schiff zu machen, ich bin allein. Kommen Sie herein«, sagte sie lächelnd. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein, danke«, sagte ich knapp.
Wir gingen in ihr Arbeitszimmer. Es war ein sonniger Vormittag, und ich sah durchs Fenster auf den Central Park, wo sich die zartgrüne Decke der dichten Baumkronen Richtung Harlem erstreckte, die Fifth Avenue auf der hinteren Seite. Der Blick vermittelte ein ähnlich losgelöstes Gefühl, als säße man in einem Flugzeug und sähe unter sich die Wolken.
»Ich möchte Sie gern etwas fragen«, sagte ich, als wir uns gesetzt hatten. »Steven Baer, der Staatsanwalt im Fall Ihres Mannes, hat mich gestern vor eine Grand Jury geladen, damit ich dort aussage. Er hat mir einige schwierige Fragen gestellt. Er wusste sehr viel über meine Behandlung von Mr Shapiro, nachdem ich ihn entlassen hatte – zum Beispiel, dass ich nach dem Besuch bei meinem Vater nach East Hampton geflogen wurde.«
Nora wirkte verdutzt. »Das war doch in Ordnung, oder? Ich wollte nur helfen.«
»Selbstverständlich, und ich bin Ihnen auch dankbar dafür, aber jetzt sieht es nicht gut aus. Sie haben den Detectives nichts davon erzählt, oder?«
Sie öffnete schockiert den Mund. Falls sie die Informantin gewesen war, dann gelang es ihr genauso gut, die Wahrheit zu verbergen wie Lauren.
»Absolut nicht. Das wäre ja schrecklich gewesen. Sie glauben mir doch, oder?«, sagte sie und hob eine Hand an den Mund.
Ich nickte. »Es tut mir leid, aber ich musste mir sicher sein.«
Ich glaubte ihr. Nicht nur, dass sie unschuldig wirkte. Es wäre nicht gut für Harrys Verteidigung, wenn es so aussehen würde, als hätte er mich dahingehend manipuliert, ihn aus dem Episcopal zu entlassen, damit er Greene erschießen konnte. Bestimmt hatte ihr Anwalt sie − genau wie Joe mich − angewiesen, freiwillig nichts preiszugeben. Nora hatte alles getan, was sie konnte, um Harrys Wünschen nachzukommen, und hatte mich in Schwierigkeiten gebracht, doch sie hatte keinen Grund, mich zu hintergehen.
»Haben Sie mit Sarah gesprochen?«, fragte Nora. »Hilft sie Ihnen?«
Sie sah mich gespannt an, und es rührte mich, dass ihr etwas daran lag. Sie war verzweifelt bemüht, Harry aus der Katastrophe zu retten, in die er sich mit seiner Überheblichkeit gestürzt hatte, von dem Niedergang seiner Bank bis hin zu Greenes Tod. Ich hätte sie gern beruhigt, doch dann würde ich ihrem Mann beistehen.
»Ich glaube, das spielt jetzt keine große Rolle mehr. Ich werde wahrscheinlich meine Approbation verlieren, egal was sie tut.«
»Nein!«, rief Nora aus und legte ihre Hand auf meine, wie sie es auch bei unserer ersten Begegnung in der Notaufnahme getan hatte. »Das ist ja schrecklich. Sie haben so viel für Harry getan, es wäre nicht richtig, wenn Sie es ausbaden müssten.«
»Nicht?«, fragte ich. »Ich habe Ihren Mann entlassen, und er ist hingegangen und hat Mr Greene ermordet. Ich würde sagen, ich
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