Die Diagnose: Thriller (German Edition)
Gesicht meiner Mutter deutlicher vor Augen als das meines Vaters.
»Hey«, sagte ich und überlegte, ob ich ihr einen Kuss auf die Wange geben sollte, doch ich rührte mich nicht, und zwischen uns war ein sicherer Abstand von einem Meter. Das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte, war ich auf einer Behandlungsliege festgeschnallt gewesen, doch diesmal war ich mir meiner Bewegungsfreiheit durchaus bewusst. »Ich räume auf.«
»Das sehe ich. Du mischst den Laden hier ganz schön auf.« Sie klang amüsiert. »Wie geht es deinem Kopf?«
»Ziemlich gut, glaube ich. Du hast gute Arbeit geleistet.«
»Setz dich. Ich seh’s mir mal an«, meinte sie entschlossen.
Ich sank gehorsam auf meinen Patientenstuhl und spürte, wie ihre zarten Hände durch meine Haare strichen, um die Haut genauer zu untersuchen. Es fühlte sich tröstlich an, wie eine kleine, unaufdringliche Massage, und meine verkrampften Schultermuskeln entspannten sich ein wenig.
»Sieht aus, als würde der Kopf gut heilen. Und wie geht es deiner Seele? Das ist doch dein Spezialgebiet, oder?«
»Nach wie vor in schlechter Verfassung«, antwortete ich.
Sie setzte sich mir gegenüber auf den Stuhl, auf dem ich während der Therapien sitze. Es verunsicherte mich, von dort beobachtet zu werden, besonders von ihr.
»Mir ist das Gerücht zu Ohren gekommen, dass die psychiatrische Abteilung nicht gut auf dich zu sprechen ist. Dir geht’s doch gut, oder? Du steckst doch nicht in Schwierigkeiten?«
Für einen Sekundenbruchteil erwog ich, ihr die Wahrheit zu gestehen. Es war das Ende eines langen Tages, der damit begonnen hatte, dass ich fest entschlossen war, den Autoritäten die Wahrheit zu sagen, und der damit geendet hatte, dass die Autoritäten mir den Kopf zurechtgerückt hatten. Ich fühlte mich allein, und sie würde das besser verstehen als jeder andere. Doch ich war gefangen in einem Netz aus Halbwahrheiten und Halbgeheimnissen, die Greenes Tod bloßgelegt hatte, und ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte.
»Ich komme zurecht. Mach dir um mich keine Sorgen. Es hat ein bisschen Palaver gegeben, aber jetzt ist alles gut«, sagte ich. »Schön, dich zu sehen. Wir sollten mal was trinken gehen.«
»Ja. Das sollten wir«, sagte sie so vage, wie ich es vorgeschlagen hatte, und verließ das Zimmer.
Ich musterte noch eine Weile meine Regale und tat so, als würde ich Bücher sortieren, als könnte ich mich selbst mit dem äußeren Anschein genauso foppen wie jemand anderen. Dann gab ich es auf und sank unglücklich an meinen Schreibtisch. Irgendwo auf dem Weg hatte sie mich losgelassen.
In der schauerlichen Düsternis der U-Bahn-Station unter dem Hunter College wartete ich auf die Linie 6, um nach Hause zu fahren. Ich sah die Lichter einer Bahn im Tunnel näher kommen, trüb glühten sie in der Ferne, und dann fuhr die mit Menschen vollgestopfte Bahn ratternd und klappernd im Bahnhof ein, und ich schob mich hinein. Als die Türen sich schlossen, sah ich weiter hinten im Waggon einen Mann, der den Arm zur Tür reinstreckte und sie aufdrückte. Er mühte sich ab, noch reinzukommen, und meine Mitreisenden stöhnten, während aus dem Lautsprecher die verzweifelte Ansage drang: »Machen Sie bitte die Türen frei.«
Endlich war er drin, und ich schaute zu ihm rüber. Er hielt sich an einer Stange fest, und alles, was ich sehen konnte, war, dass die Mitfahrer sich um ihn herum neu sortierten und dass er eine Schirmmütze trug – sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Der Zug fuhr los, und wir schossen unter der Lexington Avenue durch nach Süden. In der vierzehnten Straße entfloh ich der Enge auf den Bahnsteig. Es war noch nicht richtig Sommer, doch die Bahnhöfe hatten sich schon aufgeheizt, und man hatte die Wahl zwischen dem klimatisierten Gedränge in der U-Bahn oder der drückenden Hitze der Bahnsteige. Ein ganzer Pulk Menschen verließ den Zug, und der Drängler eilte zu meinem Ausgang.
Als ich nach oben kam, war er nirgends zu sehen. Es war dämmrig, und ich ging die Straße runter, wo ich mich zweimal umsah – seit dem Erlebnis im Central Park war ich auf der Hut. Es war niemand zu sehen. Bob stand am Empfangstresen und bedachte mich, als ich eintrat, mit einem aufmerksamen Nicken. Will er mir was sagen?, überlegte ich, doch er schwieg. Als ich in meiner Etage den halben Flur zu meiner Wohnung runtergegangen war, sah ich, dass unter meiner Wohnungstür Licht durchschimmerte. Ich verharrte mit rasendem Herzen, bevor ich weiterging.
Die Tür war
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