Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
ist er nicht mehr im Krankenhaus gewesen.
Mr. Lemay ist heute zweiundsiebzig. Ich sehe ihn etwa zweimal im Jahr in der Ambulanz. Er ist sehr gesund. Ich habe sehr wenig für ihn getan, mit einer Ausnahme: Ich habe dafür gesorgt, dass sein Blutdruck nicht zu hoch wird. Das ist nichts Besonderes. Es ist nicht schwierig. Dafür braucht man bestimmt keinen Arzt (Schwestern, praktizierende Pflegeexperten und Arzthelferinnen können das ebenso gut). Aber man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es für Patienten wie Mr. Lemay den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutet. Man kann zwar nie sicher sein; aber ich bin davon überzeugt, dass er schon vor Jahren gestorben wäre, wenn ich seinen Bluthochdruck nicht diagnostiziert und angemessen behandelt hätte. Natürlich kam er nicht wegen des Bluthochdrucks in die Notaufnahme, sondern wegen der Schmerzen in der Brust. Doch selbst wenn er keine Symptome gehabt hätte, sondern nur einen anhaltenden Blutdruck von 202/117, würde ich behaupten, die Behandlung hat ihm das Leben gerettet. Lassen Sie mich erklären, warum ich mir dessen so sicher bin.
Die Auswirkungen des Bluthochdrucks
Obwohl Ärzte seit gut hundert Jahren den Blutdruck messen können, dauerte es lange, bis sie die Gefahren des Bluthochdrucks erkannten. Man wusste beispielsweise, dass Präsident Franklin D. Roosevelt einen hohen Blutdruck hatte – er war zur Zeit seiner Wiederwahl im November 1944 höher als 200/100 –, aber es ist unklar, ob seine Ärzte dies als Problem betrachteten. Sechs Monate später kam es zu einer Krise: Er hatte starke Kopfschmerzen und verlor das Bewusstsein. Sein Blutdruck betrug 300/190. Kurze Zeit später starb er an einer starken Gehirnblutung. 2
Noch in den fünfziger Jahren hielten Fachärzte einen hohen Blutdruck bei manchen Patienten sogar für notwendig, weil er die lebenswichtigen Organe mit genügend Blut versorge. Die Versicherungsgesellschaften wussten hingegen schon damals, wie gefährlich Bluthochdruck war. Sie hatten beobachtet, dass das Sterberisiko bei Menschen mit hohem Blutdruck erhöht war, und darum weigerten sie sich oft, sie zu versichern. 3
Mitte der sechziger Jahre beschloss die Veteranenbehörde (heute das Veteranenministerium, abgekürzt VA) den Nutzen einer Behandlung jener Menschen zu untersuchen, die zwar einen hohen Blutdruck, aber keine Symptome hatten. Sie gab eine Studie in Auftrag, bei der mehrere ihrer Kliniken zusammenarbeiteten. Diese VA-Studie wählte Männer aus (damals waren fast alle Veteranen Männer), bei denen man Bluthochdruck entdeckt hatte, als sie eigentlich aus ganz anderen Gründen im Krankenhaus lagen. Die Forscher ermittelten den Blutdruck der Männer nach ihrer Entlassung und nahmen diejenigen in die Studie auf, die während ihres Krankenhausaufenthalts einen durchschnittlichen diastolischen Blutdruck zwischen 115 und 129 hatten (die also nach heutigen Maßstäben an schwerem diastolischem Bluthochdruck litten). Da der Gedanke, Menschen ohne Symptome mit Medikamenten zu behandeln, so ungewöhnlich war, achteten die Forscher darauf, dass die Teilnehmer ihre Medikamente tatsächlich einnahmen. Bevor ein Patient teilnehmen durfte, musste er sich einem Test unterziehen, der belegte, dass er regelmäßig ein Medikament einnehmen würde, selbst wenn er sich wohlfühlte.
Dieser Test sah so aus: Jeder potenzielle Teilnehmer bekam zwei Schachteln mit Tabletten (zwei, weil die Forscher korrekt annahmen, dass Patienten in Behandlung zwei Medikamente brauchen würden) und eine Anleitung, wie die Arzneien einzunehmen waren. Die eine Tablette war eine unwirksame Zuckertablette, die andere enthielt Vitamin B 2 , auch Riboflavin genannt. Zwei Wochen später trafen sich die Teilnehmer mit Mitarbeitern der Studie, die nachzählten, wie viele Tabletten die Schachteln noch enthielten. Wenn die Zahl stimmte, nahmen die Forscher an, dass das Medikament vorschriftsmäßig eingenommen worden war. Allerdings überprüften sie ihre Patienten noch durch einen einfachen Urintest. Riboflavin färbt den Urin nämlich hellgelb, und die Farbe fluoresziert unter UV-Licht. Fast 50 Prozent der potenziellen Teilnehmer bestanden den Test nicht und wurden daher entlassen, weil man nicht darauf vertrauen konnte, dass sie ihre Medikamente regelmäßig einnehmen würden.
Dieses Ergebnis zeigt, wie groß der Paradigmenwechsel war. Damals nahmen die Menschen einfach nichts ein, wenn sie keine Symptome hatten. Heute ist das normal. In modernen Studien über
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