Die Dichterin von Aquitanien
einem Vogel, dessen Flügel bis zum Boden reichten. Doch trotz der langen Ärmel ihres Bliauts vermochte sie nicht durch die Luft zu schweben, sondern stieß nur gegen den Tisch. Der Weinkrug schwankte.
»Er wird mich heiraten. Ich werde meine eigene Burg haben, muss nicht mehr der unvergleichlichen Aliénor hinterherrennen wie ein Schoßhündchen. Er ist ein Mann, ein richtiger Mann, und er liebt mich und wird mich heiraten«, wiederholte sie immer wieder, als spreche sie ein zur Buße auferlegtes Gebet.
Marie schluckte die Frage, die sich auf ihre Zunge drängte, herunter. War das Heiratsversprechen gekommen, bevor Régnier Emma gegen die Wand gedrückt hatte oder danach?
»Wo ist Isabelle?«, fragte sie stattdessen. Emma antwortete zunächst nicht, sondern drehte sich weiter im Raum herum. Ihr Ärmel blieb an der Stuhllehne hängen, sie strauchelte und wurde von Marie aufgefangen. Der starke Geruch ihres Duftwassers hatte sich mit dem beißenden Gestank brennender Kienspäne und Kohlenbecken vermischt. Außerdem klebte der herbe Geruch von männlichem Schweiß an ihrer edlen Gestalt.
»Wir waren in einer Weinschänke in der Stadt, kannst du dir das vorstellen?«, gluckste Emma.
Marie hatte Weinschänken während ihrer Reise nach Chinon kennengelernt und wollte sich besser nicht vorstellen, welches Aufsehen Emma und Isabelle in ihrer höfischen Aufmachung dort ausgelöst haben konnten. Vermutlich würde schon morgen die ganze Stadt vor ihrem ungebührlichen Ausflug wissen.
»Wo ist Isabelle?«, wiederholte sie und dachte gleichzeitig fieberhaft nach, wie ein Unglück noch zu verhindern war. Zunächst sollte Emma baldmöglichst nüchtern werden, vielleicht auch ihren Schuh wieder finden, denn ihr linker Fuß steckte nur im weißen Strumpf. Marie hoffte, dass Aliénor ihren Damen keine derartige Dummheit zutrauen und das Gerücht über ihren nächtlichen Streifzug durch Poitiers als Prahlerei der Ritter abtun würde. Aber nun musste auch Isabelle in ihrem Gemach verschwinden, bevor die ersten Bediensteten aufstanden, um eine verspätete Rückkehr der Gräfin von Flandern zu bemerken.
»Ich habe keine Ahnung, wo sie ist«, sagte Emma. »Wir tranken zusammen mit den Rittern, aber mir gefiel der stickige Geruch in der Weinschänke nicht. Daher begleitete Régnier mich in den Palast. Isabelle ist vermutlich noch dort, falls sie nicht weitergezogen ist.«
»Wie konntest du sie allein lassen!«, rief Marie entsetzt.
»Sie ist nüchtern schon leichtsinnig genug. Nach ein paar Bechern Wein lässt sie wahrscheinlich alles mit sich machen.«
»Allein habe ich sie nicht gelassen«, kicherte Emma. »Sie hatte drei Ritter an ihrer Seite.«
Marie packte ihre junge Tante an den Schultern und schüttelte sie.
»Begreifst du denn nicht, was ihr da angestellt habt? Wenn der Königin Gerüchte zu Ohren kommen, wird sie empört sein. Sie hat die Aufgabe, auf angemessenes Benehmen ihrer Damen zu achten. Und ich will nicht wissen, was der Graf von Flandern seiner Gemahlin antun könnte, wenn er von ihrem ungebührlichen Betragen erfährt.«
»Was geht mich das an? Isabelle ist doch kein kleines Mädchen!«
Emma riss sich los. Plötzlich schien sie wieder Herrin ihrer Sinne, konnte gerade stehen. Ihre Augen funkelten Marie wütend an.
»Du begreifst es einfach nicht! So viele Freiheiten wie hier in Poitiers werden wir niemals wieder haben. Und ich gedenke sie auszunutzen. Sitz du weiter über deinen Büchern und schreibe Liebesgeschichten. Dabei hast du keine Ahnung, wie es wirklich ist, einen Mann zu lieben!«
Marie schluckte. Diese Worte taten weh.
»Wenn du es zu weit treibst, ist es mit den Freiheiten schnell vorbei«, beharrte sie. »Wir sollten Aliénor keine Schwierigkeiten bereiten. Deshalb müssen wir jetzt sehen, wo Isabelle steckt.«
Entschlossen griff sie nach ihrem unauffälligsten Bliaut und dem dunklen Schleier.
»Wir werden am Tor um Begleitschutz bitten. Wenn wir dem Wachmann ein großzügiges Geschenk geben, hält er hoffentlich den Mund. Und du zeigst mir, wo diese Weinschänke ist.«
Fast war sie froh über die plötzlichen Schwierigkeiten, denn ihr Handlungsdrang befreite sie von aller Niedergeschlagenheit. Emma protestierte kurz, doch als Marie drohte, Aliénor andernfalls von ihrem Benehmen zu erzählen, folgte sie missmutig.
Der Schuh lag noch dort, wo Régnier Emma gegen die Wand gedrückt hatte. Sie streifte ihn rasch über, dann lief sie Marie hinterher. Sie eilten Stufen hinab, stolperten
Weitere Kostenlose Bücher