Die Dichterin von Aquitanien
im Hof über einen schlafenden Hund, der empört aufjaulte. Dann öffnete sich das Eingangstor, ohne dass sie mit der Wache hatten reden müssen. Zwei Gestalten erschienen. Marie sah einen blonden Haarschopf im Mondlicht aufleuchten. Ihre Eingeweide verkrampften sich, als ein zunächst verschwommenes Gesicht allmählich vertraute Züge annahm. Jean hatte seinen Arm um Isabelles Taille gelegt und schob sie durch das Tor. Sie schwankte noch stärker, als Emma es getan hatte, doch der Haarkranz saß ordentlich auf ihrem Kopf und die Verschnürung ihres Bliauts war nicht gelockert worden. Marie staunte, wie viel Erleichterung sie plötzlich empfand, weil Jean offenbar nicht versucht hatte, sich der bildhübschen Frau zu nähern, die mit leuchtenden Augen zu ihm aufsah. Er hätte sie gegen eine Hauswand drücken können, ohne auf den geringsten Widerstand zu stoßen, das verriet der schmachtende Blick ihrer Katzenaugen.
Dann ertönte Isabelles glockenhelles Lachen.
»Was machst du denn hier, Marie? Du hättest mitkommen sollen. Es war lustig. Ich verstehe nicht, warum Emma so schnell fortwollte, aber natürlich … Régnier …«
Sie machte ein paar Schritte, strauchelte und fiel in Maries Arme.
»Ich dachte, es wäre besser sie zurückzubringen«, erklärte Jean leicht verlegen. »Sie trank immer weiter, schimpfte ununterbrochen auf ihren Gemahl, und schließlich wollte
sie auch noch tanzen. Es hätte fast eine Schlägerei gegeben, weil die Männer in der Schänke sie nicht gehen lassen wollten. Eine solche Hofdame sehen sie nicht alle Tage. Wir mussten unsere Schwerter ziehen, um ihr den Heimweg zu ermöglichen.«
Seine Mundwinkel zuckten. Vor Maries innerem Auge spielte sich die eben beschriebene Szene ab. Plötzlich sprudelte Lachen aus ihrer Kehle, und Jean stimmte nach kurzem Zögern ein. Marie fühlte sich von einer Last befreit.
»Bring Isabelle in ihr Gemach«, meinte sie an Emma gewandt, die missmutig gehorchte. Dann blickte sie Jean dankbar an.
»Es war sehr anständig von Euch, Isabelle de Vermandois zurückzubringen. Werden die anderen Ritter über ihr Benehmen schwiegen?«
»Ich nehme es an. Dieser Einfall von Régnier war sehr gewagt. Niemand rechnete ernsthaft damit, dass einige Damen tatsächlich am Tor auf uns warten würden.«
Marie fragte sich, wie viel Ritter wirklich über das eintönige Leben höfischer Damen wussten.
Jean war einen Schritt näher getreten. Wieder kämpfte Marie mit dem Drang, ihre Hand auszustrecken und ihn zu berühren.
»Habt Ihr meine Zeilen gelesen?«, flüsterte er.
Sie nickte.
»Ich habe lange auf eine Nachricht von Euch gewartet, doch ich weiß, dass eine Dame umschwärmt sein will. Daher beschloss ich, den ersten Schritt zu tun«, erklärte er.
Marie wich zurück, auch wenn es sie eher zu diesem Ritter hinzog.
»Ich werde morgen nach dem Mittagsmahl in den Garten gehen«, erklärte sie leise. »Wartet unter dem großen Kirschbaum auf mich, wenn Ihr mit mir reden möchtet.«
Nun strahlte sein ganzes Gesicht. Marie trat mit dem großen Zeh gegen einen Stein, um sich zu versichern, dass sie nicht träumte. Was fand dieser hübsche Ritter denn nur an ihr?
»Ich freue mich darauf, Euch zu sehen«, meinte Jean, bevor er sich entfernte. Marie ging langsam zum Palasteingang. Gerade eben hatte sie ihren Vorsatz gebrochen, aber es gab so viele Fragen, die Jean ihr beantworten konnte. Dabei ging es vor allem um Emma, redete sie sich ein. Jean schien Régnier de Rancon zu kennen.
In ihrem Gemach empfand sie nur noch tiefe Müdigkeit und schloss erleichtert die Augen.
Das Morgenmahl wurde im Gemach der Königin eingenommen. Isabelle ließ sich wegen Kopfschmerzen entschuldigen, was Marie nicht weiter verwunderte, aber niemand störte sich daran. Emma erschien mit einiger Verspätung. Sie hatte großzügig Schminke aufgetragen, doch die dunklen Schatten unter ihren Augen vermochte sie nicht ganz zu verbergen. Marie schien sie erstaunlich ernst, fast niedergeschlagen. Der Rausch der Nacht war vorbei.
»Es wird wieder ein heißer Tag werden, fürchte ich«, versuchte Prinzessin Marguerite, eine Unterhaltung zu beginnen, denn es war unangenehm still im Raum. Nur Raoul de Fayes Töchter zeigten sich empfänglich für ihre Mühen.
»Zu heiß zum Ausreiten«, klagten sie. Dann beschrieb Gracia aufgeregt ihr neues Pferd, das der Vater ihr geschenkt hatte. Die Königin wirkte geistesabwesend. Ein Bote hatte einen Brief gebracht. Sie riss das Siegel auf, ohne ihre Damen
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