Die Dichterin von Aquitanien
denn in jenem bodenlangen Gewand der jüdischen Männer, das Kaftan hieß, hätte der blonde Ritter auf andere Reisende sehr befremdlich gewirkt. Marie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, als sie von den Frauen der Familie zum Abschied umarmt wurde. Selbst die kühle, scharfzüngige Jamila drückte sie kurz, aber innig.
»Wir werden Eure Geschichten vermissen, Ma Dame. Ihr habt hier für herrliche Aufregung gesorgt.«
Marie fuhr ihr mit der Hand über das Kopftuch.
»Vergifte deinen Gemahl später nicht gleich nach dem ersten Streit«, mahnte sie spöttisch. Jamilas Mundwinkel zuckten und verzogen sich zu einem Grinsen.
»Wenn er sich sonst anständig benimmt, hat er gute Aussichten zu überleben. Er sollte auch Sinn fürs Geschäft haben und mir erlauben, mich daran zu beteiligen. Meine Schwester hingegen hätte gern einen Gemahl wie Euren Ritter.«
»Das ist mir aufgefallen. Ich hoffe, sie findet ihn eines Tages«, entgegnete Marie und schwang sich zu Jean auf den Karren.
»Seid umsichtig auf der Reise«, sagte David ben Jehuda. »Die Ritter des Königs sind im Poitou eingedrungen und ziehen südwärts. Es heißt, sie verwüsten die Gegend.«
»Wir werden aufpassen«, erwiderte Jean und trieb das Maultier an. Marie drehte sich noch einmal um. Sie musterte die Umrisse des hölzernen Hauses, und ihr wurde auf einmal bewusst, dass sie dort glückliche Tage verbracht hatte. Die Gesichter jener Menschen, die ihr vertraut geworden waren, verschwanden hinter einer Ecke. Sie spürte einen Stich in ihrem Herzen.
»Am liebsten wäre ich geblieben«, flüsterte sie.
»Es war eine erholsame Zeit«, stimmte Jean zu. »Doch wir müssen zurück. Mein Onkel muss erfahren, was mit Robert geschehen ist. Und du solltest mit der Königin reden und ihr dein Verschwinden erklären.«
Seine Hand strich sanft über ihren Rücken, als sie die Stadtmauer von Tours durchquerten. Marie sog frische Luft in ihre Lungen. Er hatte recht, sie gehörten nicht zu David ben Jehudas Familie. Die Dame der Königin und der Ritter mussten an den Hof zurück. Sie dachte an Amélies weiches, rundes Gesicht unter weißblonden Strähnen. Eines Tages würde sie ihre eigene Familie haben.
Rauchschwaden kräuselten sich dem Himmel entgegen. Marie erblickte Hütten, deren obere Hälfte verschwunden war, als hätten riesige Zähne an ihnen genagt und sie angebissen zurückgelassen.
»Hier müssen die Routiers des Königs gewesen sein«, sagte Jean. »Vielleicht sollten wir einen Umweg um das Dorf machen.«
»Es scheint ausgestorben«, entgegnete Marie. »Wir haben keine Zeit für Umwege.«
Er lenkte den Karren widerspruchslos die Straße entlang. Der Gestank von Rauch schlug ihnen entgegen, doch hatte er sich mit einem anderen, süßlichen Geruch vermischt, der noch abstoßender schien. Marie würgte, ohne zu wissen warum, während sie auf die Ruinen zurollten. Sie sah einen leblosen Mann kopfüber an einem Baum in der Mitte des Dorfes hängen. Rote Striemen bedeckten seinen nackten Rücken, und aus den leeren Augenhöhlen floss eine schmierige Flüssigkeit. Tote Bauern und ihr dahingeschlachtetes Vieh waren übereinandergeworfen, als hätten sie sich im Tode umarmt. Ein kleiner Junge hielt einen Hund umschlungen. Marie sah sich hilflos um. Ihr Herz pochte in der Hoffnung, vielleicht noch jemanden retten zu können, doch dann erblickte sie die klaffende Wunde am Rumpf des Tierkörpers, dem der Kopf abgeschlagen worden war. Der Junge musste sich verzweifelt an das tote Tier geklammert haben, während Schwerter in seinen Rücken stachen.
»Vielleicht sollten wir uns umsehen, ob noch jemand am Leben ist«, stieß sie mühsam hervor. Jean schüttelte den Kopf.
»Wir müssen weiter. Die Routiers sind vielleicht noch in der Nähe. Wir sollten schnellstmöglich die Stadtmauern von Poitiers erreichen. Die Königin hat noch ein paar Ritter zur Verteidigung.«
»Braucht jemand Hilfe? Wir kommen in Frieden!«, schrie Marie verzweifelt auf. Nur eisige Stille antwortete ihr.
»Glaub mir, sie sind alle tot. Raubritter leisten gründliche Arbeit«, flüsterte Jean und drückte ihre Hand.
Die Leichen bildeten kleine Hügel, denen sie mit ihrem Karren ausweichen mussten. Das Maultier begann nervös mit den Hufen zu scharren, als mache der Geruch von Blut
und verwesendem Fleisch es unsicher. Jean stieg vom Karren und streichelte den Kopf des Tieres, um es dann langsam zu führen. Maries Augenlider fielen zu, doch bohrte der letzte Anblick sich
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