Die Dichterin von Aquitanien
hartnäckig in ihr Bewusstsein. Ein Mädchen mit dunklen Locken, zwischen deren Schenkeln ein blutverkrustetes Loch klaffte, hatte mitten auf der Straße gelegen. Ihr Körper wies keine weiteren Verletzungen auf, aber auch sie war im Tod erstarrt. So also sieht ein Krieg aus, dachte Marie. Aliénors Krieg. Sie hatte ihn verloren, und die Menschen dieses Dorfes hatten den Preis dafür bezahlt.
Marie presste die Fäuste gegen ihre Schläfen. Ihr Kopf drohte vor bitteren Gedanken zu zerspringen.
»Wir haben das Dorf jetzt verlassen«, murmelte Jean in ihr Ohr, und sie fühlte den Druck seiner Hand an ihrer Schulter. Um nicht völlig schwach zu wirken, zwang sie sich, ihre Augen wieder zu öffnen. Die prächtigen Weinberge der Gegend waren zu kahlen Hügeln verbrannt.
»Die Ernte ist vernichtet. Wer hier noch am Leben ist, wird im Winter vielleicht verhungern«, meinte Jean erschöpft. Marie schmiegte sich an ihn.
»Bis nach Bordeaux werden sie nicht vordringen«, versuchte sie, ihn und auch sich selbst zu beruhigen.
»Nein«, stimmte er zu. »Der König will nach Poitiers.«
Er verstummte und ließ das Maultier kurz anhalten. Seine Finger fuhren nervös durch das blonde Haar.
»Vielleicht sollten wir nicht zu der Königin fahren, Marie. Sie hat den Krieg verloren, und der König ist unterwegs zu ihr. Wir holen Amélie. Dann sehen wir weiter.«
Ihre Hände verkrampften sich. Die Sehnsucht nach ihrer Tochter wurde so stark, dass sie einen Schrei unterdrücken musste. Gleichzeitig aber schoben andere Gesichter sich in ihr Bewusstsein. Hawisa mit ihrem spitzbübischen
Lächeln, Emma, die genüsslich eine Olive auf ihrer Zunge rollen ließ. Und schließlich die schmalen, edlen Züge der schönen Dame, der Marie ihre Freiheit und ihren Ruhm verdankte. Obwohl sie keine Familie im herkömmlichen Sinne besaß, war sie doch nicht völlig allein auf der Welt.
»Ich will zuerst nach Poitiers«, entgegnete sie. »Wir sollten Aliénor warnen, dass Henri vorrückt, denn sie hat uns beide bisher unterstützt. Dann holen wir mit ihrer Erlaubnis Amélie. Ich bin mir sicher, sie lässt mich gehen, wenn sie nicht mehr für meine Sicherheit garantieren kann.«
Jean widersprach nicht.
Auf dem Weg nach Poitiers wuchs eine Kolonne von Flüchtlingen heran. Bauern, deren Dörfer verwüstet waren, Ritter aufständischer Vasallen und auch ein paar Burgherrn mit ihren Familien suchten Zuflucht bei ihrer Herzogin, um der erbarmungslosen Rache Henris zu entkommen, doch hinter den schützenden Stadtmauern nahm das Leben seinen gewohnten Lauf. Karren rollten durch die Straßen, Pilger zogen andächtig zum Grabmahl der heiligen Radegund, und Händler versuchten durch lautes Gebrüll auf ihre Waren aufmerksam zu machen. Marie fühlte Freude in sich aufsteigen, als sie neben der Kirche Notre Dame la Grande Türme und Erker des Palastes emporragen sah. Seitdem sie ihr Zuhause in Huguet verloren hatte, war Poitiers der erste Ort, an dem sie sich wieder wirklich heimisch fühlte.
Sie wurden ohne besonderes Aufheben durch das Eingangstor gelassen. Im Hof eilten Bedienstete geschäftig herum. Neben einer Hütte lieferten zwei junge Ritter sich einen Ringkampf im Stroh. Eine Traube von Umstehenden feuerte sie johlend an.
Marie eilte die Stufen hoch und stieß die Tür zu ihren Gemächern auf. Hawisa blickte fassungslos von ihrer Näharbeit
auf. Als sie auch Jean eintreten sah, stieß sie einen lauten Freudenschrei aus.
»Er lebt! Er scheint völlig gesund! Ich habe mir solche Sorgen um euch gemacht!«
Jean lächelte etwas verlegen, als eine strahlende Zofe sich ihm an den Hals warf.
»Ich sollte jetzt besser zu den Rittern gehen«, wandte er ein. »Ich muss herausfinden, was sich in der Zwischenzeit ereignet hat und ob Nachrichten von Richard eingetroffen sind. Ich sehe dich beim Abendmahl, Marie. Hoffentlich hast du keine Schwierigkeiten mit der Königin.«
Seine Worte rissen sie aus dem Freudentaumel in die Wirklichkeit zurück.
»Ich muss mich umkleiden und Aliénor aufsuchen«, meinte Marie zu Hawisa, nachdem Jean den Raum verlassen hatte. »Vielleicht könntest du für mich herausfinden, ob sie Zeit hat, mich zu empfangen.«
Hawisa nickte und lief hinaus. Marie wühlte in ihrer Truhe nach einem hübschen Bliaut, denn der braune, in dem sie nach Tours aufgebrochen war, wies inzwischen einige Löcher auf und war vom Straßenschmutz verklebt. Eine unbekannte Dienstmagd brachte ihr einen Eimer Wasser und Seife. Hawisa musste sie
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